Freiwilliges Sterben im Licht des Kreuzes

Die Kirchen tun sich oft schwer mit dem selbstbestimmten Sterben alter und kranker Menschen: Der Mensch dürfe nicht über sein Leben verfügen und es freiwillig beenden. Dieser Essay möchte vom Kreuz her eine Perspektive auf das selbstbestimmte Sterben eröffnen.

Persönliche Gedanken zum selbstbestimmten Sterben in Anbetracht des Todes vom Sohn Gottes

Deshalb stelle ich Jesu Tod am Kreuz in den Mittelpunkt der folgenden Zeilen und nicht etwa Gott, den Schöpfer und Schenker alles Lebens. Im Sterben des Gottessohnes zeigt sich nämlich, dass Gott seinen eigenen Tod letzenendes selbst wollte.

Dieser Tod des Gottessohnes taucht in vielen Bibeltexten, Gebeten und Liedern auf. Sie alle zu betrachten, würde den Rahmen hier sprengen. Konkret nehme ich deshalb dabei Bezug auf ausgewählte Texte der christkatholischen Liturgie, die zentrale Aussagen über den Tod Jesu enthalten: Die Eucharistiegebete und die Liturgie des Leidens und des Sterbens Jesu Christi vom Karfreitag.

Wer starb am Kreuz?

Um die Bedeutung des Kreuzestodes im Blick auf das selbstbestimmte Sterben zu verstehen, sei hier zunächst überlegt, wer nach christlichem Verständnis überhaupt am Kreuz starb. Die Antwort lautet im Prinzip kurz und knapp: Jesus Christus, der Sohn Gottes.

In allen fünf Eucharistiegebeten der christkatholischen Liturgie ist der Tod des Gottessohnes ausdrücklich ein Begriff. Vier von fünf Eucharistiegebeten machen den Tod des Gottessohnes neben seiner Auferstehung ausdrücklich zum zentralen Gegenstand der Eucharistiefeier im Sinne eines Gedächtnisses an den Tod Jesu Christi. Drei der fünf Eucharistiegebete enthalten den Gemeinderuf: «Den Tod des Herrn verkünden wir.» Gemeint ist jeweils Gott der Sohn. Ein weiteres bekanntes Todes-Wort, das in zwei der fünf Eucharistiegebete auftaucht ist Jesu «Gehorsam bis zum Tod am Kreuz». Ein besonderes Augenmerk verdienen an dieser Stelle auch die sogenannten Einsetzungsberichte aller Eucharistiegebete. Mit Ausnahme des fünften sprechen sie vom Tod Jesu jeweils vom Leib und Blut Christi, die «hingegeben» werden. Das fünfte spricht vom Leib, der «zerbrochen», und vom Blut, das «vergossen» wird.

Unter diesen Gesichtspunkten ist nun verdeutlicht, dass nach christlichem Glauben der Sohn Gottes am Kreuz starb. Dass ein Gott stirbt ist zwar schon ziemlich aussergewöhnlich, sagt aber über das Thema des selbstbestimmten Sterbens noch relativ wenig aus.

Wer wollte, dass der Sohn am Kreuz stirbt?

Um dieses Thema im Licht des Kreuzes zu vertiefen, muss nun geklärt werden, wessen Absicht der Tod des Gottessohnes war.

Mit Ausnahme des zweiten, verstehen die christkatholischen Eucharistiegebete den Tod des Gottessohnes als Teil seiner Sendung vom Vater, der den Tod des Sohnes somit gewollt haben muss. So heisst es beispielsweise im ersten Eucharistiegebet, dass der Vater den Sohn sandte:

«… dass er Deine Herrlichkeit und Liebe offenbare und die Welt errette durch seinen Gehorsam bis zum Tod am Kreuz. Ihn hast Du für uns dahingegeben.»

Im zweiten Eucharistiegebet heisst es ähnlich ohne Sendungswort über Gott den Vater:

«Du hast die Welt so sehr geliebt, dass Du Deinen einzigen Sohn dahingabst.»

Aber auch der Sohn will seinen Tod, weil sein Wille einer mit dem des Vaters ist. Im dritten und im vierten Eucharistiegebet ist die Selbst-hingabe des Gottessohnes unterstrichen, wenn es von ihm heisst: «Er … gab für uns sein Leben hin.» Im fünften Eucharistiegebet heisst es dann ganz deutlich Jesus «hat Deinen Willen erfüllt … Als er sich freiwillig dem Leiden auslieferte, …». In der Feier des Leidens und Sterbens Jesu vom Karfreitag kommt nun die Willenseinfügung des Sohnes im Gebet Jesu im Garten Getsemani (vgl. Mt 26,39.42.44) in der Passionslesung zum Ausdruck.

Ob es nun der Vater war oder der Sohn: Gott wollte letztlich seinen eigenen Tod und erreichte ihn. Dabei war er – und das ist ein wesentlicher Unterschied zwischen dem Kreuzestod und einem Suizid im üblichen Sinn – nicht in irgendeiner Form des Lebens müde oder satt, auch wollte er sich eben gerade keinem Leiden entziehen, sondern er wollte sterben, damit die vielen das Leben gewinnen. Damit stellt sich eine letzte Frage: Warum wollte und starb Gott seinen eigenen Tod?

Warum?

In allen fünf Eucharistiegebeten wird der Kreuzestod im Zusammenhang mit der rettenden, erlösenden und offenbarenden Heilstat Gottes gesehen. Nirgends aber kommt die Bedeutung des Kreuzestodes so deutlich und ausführlich zum Ausdruck, wie in der Feier des Leidens und Sterbens Jesu Christi am Karfreitag.

Dort heisst es zunächst im einleitenden Gebet, dass Gott «durch das Leiden» des Sohnes den Tod entmachtet hat. In der Folge wird Jesus Christus mit dem Passalamm verglichen. In der Einleitung zur ersten Lesung heisst es:

«Der Herr vergiesst am Kreuz sein Blut und stirbt, damit wir vom Tod befreit werden und leben.»

Auch die Einleitung zur zweiten Lesung – dem Lied vom leidenden Gottesknecht – betont:

«Der Herr leidet für uns am Kreuz, sein Tod sühnt unsere Schuld.»

Das Lied vom leidenden Gottesknecht selbst bringt dies nochmals auf den Punkt:

«Doch er war durchbohrt für unsere Sünden /
zermalmt für unsere Missetaten.
Die Strafe lag auf ihm zu unserem Frieden /
wir sind geheilt durch seine Wunden.

Er wurde misshandelt und beugte sich /
und er tat seinen Mund nicht auf.

Doch der Herr fand Gefallen an seinem zerschlagenen Knecht /
er rettete den, der sein Leben als Sühnopfer hingab.

Er ist der gerechte Knecht, der durch sein Leiden vielen Heil schafft /
und ihre Vergehen auf sich nimmt.
Gott erhöht ihn, weil er sein Leben in den Tod dahingab.»
(vgl. Jes 53,5.7.10.12)

Weiter greift der Gesang bei der Kreuzverehrung den Zusammenhang zwischen dem Tod des Gottessohnes und der Rettung des Kosmos ebenfalls auf:

«Blicket hin zum Stamm des Kreuzes, daran der Herr den Tod erlitt für das Heil und das Leben der Welt.»

Kurz nachher im Hymnus heisst es:

«Des Königs Fahne schwebt empor,
im Glanze geht das Kreuz hervor,
daran der Herr des Lebens starb
und neues Leben uns erwarb.

O Baum der Ehre und der Pracht

hältst das Opfer hoch empor,
das selbst zu sterben auserkor
zur Sühnung für die Schuld der Welt,
durch das der Sünde Reich zerfällt.»

Wenn auch manche aus ihrem Leben scheiden möchten, um anderen eventuell nicht zur Last zu fallen, kann wohl kaum jemand eine derartige Selbstaufopferung wie diejenige Gottes für sich geltend machen. Es bleibt dennoch ein Gott, der seinen eigenen Tod wollte und freiwillig «selbst zu sterben auserkor».

Zusammenfassung

Gott begab sich also freiwillig in den Tod, indem Gott der Vater Gott den Sohn in die Welt sandte, um der Welt neues Leben zu schenken. Gott liess diesen seinen eigenen Tod geschehen, er verhinderte ihn nicht, verhielt sich also passiv. Aktiv Hand an sich selbst legte Gott aber nicht. Gott war auch nicht unheilbar krank oder alt, dass er des Lebens müde gewesen wäre und sich deswegen den eigenen Tod wünschte.

Ich für mich schliesse daraus, dass im Blick auf den Kreuzestod Jesu Christi, des Sohnes Gottes, Gott freiwillig und selbstbestimmt starb. Denn er wollte seinen Tod, er forderte ihn durch Jesu Lehre, er nahm ihn in seiner Allmacht auf sich ohne ihn abzuwenden, damit er seinen Heilsplan erfüllen konnte.

Ich würde deswegen sogar soweit gehen und von einem zwar traurigen, und tragischen, aber schliesslich gottgewollten, mysteriösen, göttlichen und heroischen und deswegen einzigartigen Suizid zu sprechen. Das mögen wahrscheinlich viele nicht verstehen und eher ablehnen: Gott bringt sich doch nicht selbst um! – So weit muss man auch gar nicht gehen.

Ich wünsche mir, dass Kirche und Gesellschaft sich vergegenwärtigen, dass Gott freiwillig am Kreuz sterben wollte, und dass sie das freiwillige Sterben nicht nur vom unverfügbaren Leben her betrachten, sondern auch im Licht des Kreuzes, «daran der Herr des Lebens starb.»

Pfr. Lenz Kirchhofer