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Beten mit Leib und Seele: Lesen

Gebetsweisen Lesen Ganz
Rogier van der Weyden (1399-1460): «Die lesende Maria Magdalena» (Fragment, um 1435), National Gallery, London.

Eine lesende Frau. Tief versunken. Es ist Maria von Magdala, die Entdeckerin und Verkünderin des österlichen Lebens (vgl. Joh 20,1–18). Das Salbgefäss, ist ihr sicheres Kennzeichen!

Sie scheint nicht zu lesen, um sich schnell zu informieren oder um sich zu zerstreuen. Sie sammelt sich im Lesen. Zentriert sich. Ihr Kopf neigt sich dem Buch entgegen. Entsprechend haben die Hände den kostbaren Band nicht abgelegt, sondern halten ihn achtsam in der Schwebe. 

Von ausgesuchter Schönheit und gemäss der zeitgenössischen Mode gekleidet, zeigt der Maler, wie sich die biblische Maria von Magdala im eigentlichen Sinne des Wortes in ein Buch «vertieft». Dieses Buch, das von einem Tuch umhüllt sowie durch einen festen Deckel mit Schliessen geschützt wird, ist – wie jedes andere vor der Erfindung des Buchdruckes – ein Schatz. Doch nicht der äussere Wert scheint die Leserin anzuziehen. Ihr geht es um den Inhalt: Sie liest das Wort Gottes. Maria findet in den Erzählungen des Ersten Bundes, in der Vielfalt der Psalmen, in den prophetischen Texten und in der poetischen Philosophie der Weisheitsbücher einen Sinnhorizont für ihr Leben. Mit dem heiligen Wort verlässt sie das Äusserliche, versenkt sich und begegnet der Gottesbotschaft. So stellt der Maler das Lesen als einen Ausdruck mystischer Spiritualität dar. Das Gemälde spricht davon, dass Lesen Hingabe sein kann. Wenn das Lesen gelingt, hat es die Macht, einen Menschen zu seiner Mitte zu führen, ihn aus der Zerfaserung zu befreien. 

Achtsames Lesen der Gottesbotschaft ist dem inneren Weg der Mystik sehr ähnlich.

Christliche Spiritualität kann letztlich ohne Wort und Buch, ohne Lesen und Hören nicht sein!

Maria von Magdala ist Leserin und Hörerin des göttlichen Wortes. Auch das gibt ihr die Kraft zur Osterbotschaft.

Pfarrer PD Dr. Michael Bangert