Das Leben lebt. Immer. Und grenzenlos.
Alles vorbei. Der Geschundene ist tot. Neid, Hass, Recht-
haberei und Missgunst sind erfolgreich. Der Mann, der die
Lilien des Feldes für schöner hielt als den grossen König
Salomo, ist einen elenden Tod gestorben. Ehrlos.
Das Kreuz: Schande und Strafe zugleich.
Kein Zweifel, seine Gegner haben obsiegt. Sie sassen am
längeren Hebel der Macht.
Der Prediger aus Nazareth hat verloren,
Jesus ist tot. Ins Totenreich abgesunken. Mundtot.
Zerschlagen. Ende. Aus.
Die Botschaft von dem Gott, der seine Menschen sehnsüch-
tig liebt. Wie ein barmherziger Vater und eine fürsorgliche
Mutter, ist untergegangen. Verstummt.
Nun können die Freunde den toten Körper abnehmen.
Vom Kreuz abnehmen. Ein Kleiner – Nikodemus, der näch-
tens die Wahrheit suchte – will den Nagel mit Hilfe eines
Werkzeugs aus der linken Hand ziehen. Schon steigt er die
Leiter hinauf. Ein kräftiger Mann – Joseph von Arimathäa
– umarmt bergend den Toten. Gleich wird ihm die Last des
Leichnams in die Arme fallen. Es scheint, als küsse er
stillzart auf den Körper Jesu. Die Seitenwunde.
Der rechte Arm ist schon gelöst. Die Hand von Kreuzesbal-
ken gesunken. Da ist Maria, die Mutter. Die Weinende.
Sie nimmt die Hand. Schmiegt ihre Wange hinein.
Von dieser Geste deutet sich plötzlich alles Geschehene neu.
Im Tod, im Sterben stiftet Christus neue Begegnung.
Zärtliches Fühlen. Sein Kopf wendet sich der Mutter lebend zu.
Der Tod hat nicht das letzte Wort. Die Liebe liebt.
Das Leben lebt.
Mitten in Trauer und Verlust öffnet die kleine Geste einen
neuen Raum. Ein neues Sein.
Ein Engel hilft Maria verstehen. Stützt sie. Führt sie.
Benedetto Antelami, der wundersam sehende Steinschneider,
legt eine eigenartige Ruhe über das Geschehen.
Es ist der Punkt der Ruhe. Der Zeitpunkt der Stille.
Der Punkt, wo Tod und Leben in eins fallen.
Der stille Ort der Wandlung von Angst in Zuversicht,
von Zerrissenheit in Heil, vom Angstschrei zum lieben Kuss,
vom Scheitern zum Aufstehen, von der Trauer zum seligen
Hoffen.
Der stille Ort des Wunders.
Wir kennen ihn alle.
Dieser stille Punkt in der Zeit.
Der kurz ist und ewig zugleich.
Wo das Leben so innig lebt.
Wo Ostern aufbricht.
Noch ohne Feier. Ohne Pracht noch und Fest.
Doch unüberwindlich. Grenzenlos.
Der Zeitpunkt göttlicher Liebe.
Michael Bangert