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Das Markus-Evangelium

Heilung Des Tauben
Die Heilung eines Tauben. Stift des Klosters Neuburg.

Eine Provokation

Die Heilung eines Tauben. Stift des Klosters Neuburg.

Der Verfasser des Markusevangeliums – ob er tatsächlich so hiess und wer er war, kann heute nicht mehr herausgefunden werden – begründete eine neue Buchgattung; das Evangelium. Was für uns heute selbstverständlich ist, war damals eine Provokation. Die Informationen für seine Schrift übernahm Markus wahrscheinlich gewissen praktizierten Traditionen, man könnte auch sagen Liturgien, schon aufgeschriebenen Geschichten und mündlichen Überlieferungen. Es ist davon auszugehen, dass dieser Markus Jesus selbst nicht gekannt hatte, was übrigens auf alle vier Evangelisten zutrifft.

Wie die «Vita» Jesu zur «guten Nachricht» wurde

Das Evangelium nach Markus ist die älteste uns bekannte Lebensdarstellung Jesu. Und dabei ist der Titel wie der Inhalt zu jener Zeit eine Provokation. Die Schrift entstand um 70 n. Chr. In der damaligen griechisch-römischen Kultur waren Lebensdarstellungen von bekannten Persönlichkeiten – oft Generäle oder Könige – sehr in Mode. Anhand von Geschichten und Anekdoten zwischen Geburt und Tod wurde das Leben eines besonderen Menschen dargestellt. Diese Lebensdarstellungen nannte man «Viten». Auch der Aufbau des Markusevangeliums erinnert ganz deutlich an eine solche «Vita». Doch war Jesus weder eine bekannte Persönlichkeit noch deutete sein Lebenswandel und schliesslich sein Tod auf das Leben einer bewundernswerten Persönlichkeit hin. Weiter nannte Markus seine Schrift nicht «Vita», sondern «Evangelium». Evangelium bedeutet «gute Nachricht». So nannte man damals eine mündlich überbrachte Nachricht – wie etwa die Geburt eines königlichen Kindes oder den Sieg in einer Schlacht. «Evangelien» wurden mit einem weltpolitischen Ereignis ersten Ranges in Verbindung gebracht.

Und nun kommt einer und berichtet von einer aus damaliger Sicht «gescheiterten» Persönlichkeit, nennt dies schliesslich auch noch «Gute Nachricht» und impliziert damit ein weltbedeutendes Ereignis. Damit legt Markus quasi eine Gegenerzählung vor: Die königliche Geburt liegt in einem ausserehelich und in ärmlichen Verhältnissen geborenen Kindes, und die bedeutende Vita im Leben eines Mannes, der nie Reichtum erlangen, sondern als Wanderprediger herumziehen und schliesslich wie jeder besonders verwerfliche Verbrecher gekreuzigt werden wird. Damit stellt er Werte der damaligen griechisch-römischen Gesellschaft und Politik in Frage.

Peter Paul Rubens: Kreuzigung, 1618-1620.

Der Titel „Evangelium“ und der „Sohn Gottes“

Peter Paul Rubens: Kreuzigung, 1618-1620.

Die damals noch als Rollen verfassten Schriften hatten keine eigentlichen Titel. Erst diejenigen, die solche Schriften kopierten und aufbewahrten, gaben ihnen einen Titel, welcher aus den ersten Worten einer Schrift gebildet wurde. Und so beginnt das Markusevangelium: Anfang des Evangeliums von Jesus Christus, Gottes Sohn. So kam der Titel Evangelium überhaupt zustande. Der Titel Markusevangelium oder Evangelium nach Markus kommt erst einige Jahrhunderte später auf, denn in der Antike war es in der Regel nicht üblich, den Verfasser zu nennen. Nimmt man den Wortlaut aus dem Griechischen ganz genau, so müsste es heissen: «Anfang des Evangeliums von Jesus Christus, eines Sohnes eines Gottes.» Und schon sind wir bei der nächsten Provokation: So nannte man die römischen Kaiser zur damaligen Zeit. Dieser Verfasser des ersten Evangeliums liess also nichts aus.

Der «markinische» Jesus

Die Darstellung Jesu, der Fokus, der auf die Person Jesus gerichtet wird, ist in den Evangelien deutlich unterschiedlich. Markus ist stark an der menschlichen Seite Jesu interessiert. Der «markinische» Jesus kann zornig und traurig sein, er ist manchmal müde, er hat Hunger, er umarmt Kinder und schliesslich kennt er auch die Todesangst: «Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?» (Mk 15,34), sagt Jesus kurz vor seinem Tod am Kreuz, und bevor er stirbt, schreit Jesus nochmals laut auf (Mk 15,37). Jesus kennt wie alle Menschen die grösste Verzweiflung. Diese zutiefst menschliche Facette von Jesus kommt teilweise noch bei Matthäus vor, kaum aber mehr bei Lukas und schon gar nicht bei Johannes, den deutlich mehr die göttliche Seite Jesu interessiert.

Markus hatte offenbar auch sehr viel für Heilungsgeschichten übrig. Sie nehmen viel Raum im Evangelium ein. Auch hier kommt die Nähe zwischen dem Menschen Jesus und seinen Mitmenschen deutlich zum Ausdruck. Jesus heilt z.B. einen tauben Mann folgendermassen: «Jesus nahm ihn beiseite, von der Menge weg, legte ihm die Finger in die Ohren und berührte dann die Zunge des Mannes mit Speichel; danach blickte er zum Himmel auf, seufzte und sagte zu ihm: Effata!, das heisst: Öffne dich! Sogleich öffneten sich seine Ohren, seine Zunge wurde von ihrer Fessel befreit und er konnte richtig reden.» (Mk 7,33-35) So wendet Jesus manchmal auch Methoden an, die gerade in den jüdischen Kreisen aus Reinheitsgründen unmöglich waren.

Gerade im Anschluss an diese Geschichte kommt eine weitere «markinische» Eigenheit zum Ausdruck: «Jesus verbot den Jüngern, jemandem davon (von der Heilung) zu erzählen.» (Mk 7,36) Dies gilt für die meisten Wunder, die Jesus im Markusevangelium bewirkt; er verbietet jenen, die es gesehen haben, irgendjemandem davon weiter zu erzählen. «Doch je mehr er es ihnen verbot, desto mehr verkündeten sie es.» (Mk 7, 36).

Drei Marien am Grab Christi. Adam Elsheimer, um 1603.

Die fehlende Geschichte zur Auferstehung

Auffallend bei Markus ist nicht nur, dass er sich für die Geburt Jesu gar nicht interessiert – es gibt keine Geburtsgeschichte, auch den 12-jährigen Jesus im Tempel sucht man hier vergebens –, sondern dass sein Evangelium keinen eigentlichen Auferstehungsbericht beinhaltet. Das Evangelium schliesst mit dem Bericht über Maria, die Mutter von Jakobus, Maria von Magdala und Salome, die frühmorgens zum Grab kommen. Der grosse Stein ist plötzlich weggewälzt und in der Grabkammer sitzt ein junger Mann. Dieser sagt zu den Frauen: «Erschreckt nicht! Ihr sucht Jesus von Nazaret, den Gekreuzigten. Er ist auferstanden; er ist nicht hier. Seht, da ist die Stelle, wohin man ihn gelegt hat. Nun aber geht und sagt seinen Jüngern und dem Petrus: Er geht euch voraus nach Galiläa; dort werdet ihr ihn sehen, wie er es euch gesagt hat. Da verliessen sie das Grab und flohen; denn Schrecken und Entsetzen hatte sie gepackt. Und sie sagten niemandem etwas davon; denn sie fürchteten sich.« (Mk 16,1-8) Die Frauen fliehen und sagen kein Wort über die Auferstehung Jesu. Niemand erfährt von der zentralen Aussage des christlichen Glaubens, nämlich, dass Christus auferstanden und damit den Tod für uns alle überwunden hat. Haben die Jünger Jesu während seines Lebens, alles, was er ihnen verbot weiterzusagen, weitererzählt, so verweigern diese Frauen nun, der Aufforderung zur Verbreitung der «guten Nachricht» nachzukommen. Was will der Verfasser des Markusevangeliums damit erreichen?

«Nachbesserung» am Schluss

Wenn Sie nun eine Bibel aufschlagen, werden Sie sagen, dass da doch noch weitere acht Verse folgen. Und darin steht, dass Maria von Magdala doch zu den Jüngern Jesu eilte, um ihnen zu berichten. Dieser Schluss stammt aber nicht von Markus. Der abrupte Schluss des ersten Evange­liums – quasi ohne wirkliches Happy-End – wurde schlecht ertragen. Etwa ab dem 5. Jh. fingen deshalb die Abschreiber an, dem Evangelium einen kleinen, weiteren Schluss anzuhängen. Der in den heutigen gängigen ­Bibelübersetzungen angehängte sogenannte sekundäre Markusschluss entstand wiederum einige Jahrhunderte später und etablierte sich zum kanonischen Abschluss des Evangeliums.

Aber nun: Was anfangen mit einem Abschluss einer Geschichte, die mit Stillschweigen über den eigentlichen Sinn, den Höhepunkt der Geschichte aufhört? Eine mögliche Erklärung wäre folgende: Die Aufforderung des jungen Mannes, über die Auferstehung Jesu zu berichten, ist an alle Leserinnen und Hörer gerichtet. Es ist ihre Aufgabe, sich immer wieder mit den Geheimnissen von Leben und Sterben Jesu auseinanderzusetzen und dies in der Welt kundzutun. Die Aufforderung gilt also uns allen, sie wird nicht von jemand anderem erledigt.

Leseempfehlungen

  • Markus 1,40-45 (die Heilung des Aussätzigen)
  • Markus 7,31-37 (Heilung des Taubstummen)
  • Markus 16,1-8 (der markinische Schluss des Evangeliums)

Liza Zellmeyer

Serie zu den vier Evangelien

Die Vielfarbigkeit der frohen Botschaft

Mit einem Beitrag zum Lukas-Evangelium (aus Anlass von Weihnachten folgte der erste Beitrag nicht der chronologischen Reihenfolge) hat in der letzten Ausgabe des Christkatholisch eine Serie zu den vier Evangelien begonnen. Die Serie will einen kleinen Einblick in die spezifische Eigenart der jeweiligen Evangelien geben. Unsere Leitfragen waren: Was ist einem Evangelisten besonders wichtig? Wo werden die Schwerpunkte im Evangelium gesetzt?

Unser Jesus-Bild ist immer ein durch die unterschiedliche Perspektive der Evangelien geprägtes. Es finden sich hier also vier Texte nebeneinander, die sehr unterschiedlich sind, ja sich teilweise sogar widersprechen. Für uns ist das nicht Ausdruck eines Defizites, sondern einer grossen Stärke der biblischen Botschaft. Die Vielfarbigkeit auch der Evangelien ist kein theologischer Mangel, sondern Ausdruck der Weite des christlichen Glaubens. Wenn wir die vier so unterschiedlichen Evangelien immer wieder neu – und vielleicht auch nebeneinander – lesen, zeigt sich erst diese Vielfalt, Vielfarbigkeit und Fülle der frohen Botschaft.

Liza und Thomas Zellmeyer