Das menschenfreundliche Antlitz Gottes
Mit dem Evangelisten Lukas verbinden die meisten Christinnen und Christen wohl vor allem eines: die Weihnachtsgeschichte. Sie ist der vermutlich bekannteste Text aus einem Evangelium, das Jesus in einer ganz besonderen Vielschichtigkeit zeigt. Der Evangelist Lukas fügt so dem vielgestaltigen Jesus-Bild eine ganz einzigartige Facette hinzu.
Bereits zu Beginn seines Evangeliums macht Lukas in einem Vorwort eine programmatische Aussage:
«Schon viele haben es unternommen, einen Bericht über all das abzufassen, was sich unter uns ereignet und erfüllt hat. Dabei hielten sie sich an die Überlieferung derer, die von Anfang an Augenzeugen und Diener des Wortes waren. Nun habe auch ich mich entschlossen, allem von Grund auf sorgfältig nachzugehen, um es für dich, hochverehrter Theophilus, der Reihe nach aufzuschreiben.»
(Lk 1,1-3)
Das Evangelium als Heils- «Geschichte»
Bereits aus diesem Vorwort erschliesst sich so einiges über das Selbstverständnis und die Stellung des Evangelisten: Lukas sieht sich keineswegs als den Begründer der Gattung «Evangelium». Klar verweist er auf Vorläufer, auf die «vielen», die schon über Jesus berichtet haben. Gleichzeitig beschreibt er sich geradezu als «Historiker», als einer, der die Überlieferungen genau prüfte und der Reihe nach aufschreibt. Dieses Interesse an Geschichte zieht sich durch das ganze Lukasevangelium – denken wir nur schon daran, wie genau Lukas den Zeitpunkt der Geburt Jesus chronologisch zu erfassen versucht und durch die Erwähnung des römischen Kaisers Augustus auch gleich noch in die Weltgeschichte einbindet. Dieser Eindruck von Lukas als dem «Historiker» unter den Evangelisten verstärkt sich noch, wenn man sich vor Augen hält, dass nicht nur das Lukasevangelium, sondern auch die Apostelgeschichte aus seiner Feder stammt. Dabei versteht aber Lukas Geschichtsschreibung nicht einfach als blosse Beschreibung von Ereignissen. Geschichte ist für Lukas «Heils»- Geschichte. Diese Heilsgeschichte aber hat auch eine klare geographische Richtung: Jesus wandert im Lukasevangelium von Nazareth nach Jerusalem, wo er gekreuzigt wird. In der Apostelgeschichte, dem zweiten Teil des sogenannten «lukanischen Doppelwerkes» wird dann beschrieben, wie sich die Botschaft des Auferstandenen von Jerusalem ausgehend über das ganze römische Reich ausbreitet. Die Apostelgeschichte endet in Rom. Damit macht Lukas klar: Das Heil, das Jesus den Menschen brachte, hat einen weltweiten Anspruch, es gilt allen Menschen, es gilt nicht nur den Juden, sondern auch den sogenannten «Heiden». Lukas schreibt denn auch vor allem an ein sog. «heidenchristliches Publikum» – verkörpert in der Gestalt des Theophilus, den er am Anfang beider Bücher (Lukasevangelium und Apostelgeschichte) direkt anspricht.
War Lukas ein Arzt?
Wie bei allen Evangelien bleibt auch beim Lukasevangelium der Autor im Dunkeln. Wir wissen im Grunde nicht, wer dieser Lukas war. Die christliche Tradition hat in Lukas einen engen Mitarbeiter und Begleiter von Paulus gesehen. Tatsächlich ist in einigen Paulusbriefen ein Mann namens Lukas erwähnt. Die kirchliche Tradition hat Lukas als wissenschaftlich gebildeten Arzt gesehen. Ob Lukas wirklich Arzt war oder nicht, kann nicht geklärt werden. Allerdings zeigt sich, dass Lukas sehr an Heilungsgeschichten und an Leiblichkeit interessiert war. In keinem anderen Evangelium kommen Wörter wie «gesund machen» oder «heilen» so häufig vor wie bei Lukas. Und in seinen Auferstehungsberichten zeigt er ein auffallendes Interesse an der Leiblichkeit des Auferstandenen, etwa wenn der auferstandene Jesus seinen Jüngern beweist, dass er kein Geist ist, indem er sie auffordert, seine Hände und Füsse anzufassen, und er demonstrativ vor ihnen einen Fisch isst (Lk 24,38-43). Auch das Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk 10,25-37), das nur im Lukasevangelium steht, zeigt einen Jesus, dem die ganz praktische, auch medizinische Fürsorge für den Nächsten enorm wichtig ist.
Lukas politisch: römerfreundlich und reichtumskritisch
Das Lukasevangelium zielt auf ein «heidenchristliches», römisches Publikum ab. So zeigt sich Lukas als in der Tendenz eher römerfreundlich. Dies zeigt sich etwa darin, dass in der Passionsgeschichte Pontius Pilatus neutral, bis fast schon wohlwollend dargestellt wird, und die römischen Soldaten, die Jesus kreuzigen, kaum erwähnt werden. Sehr kritisch ist das Lukasevangelium dem Reichtum gegenüber. Im Lukasevangelium finden sich besonders scharfe Anklagen an die Reichen, so etwa schon im Lobgesang der Maria, dem Magnificat: «Die Hungernden beschenkt er mit seinen Gaben und lässt die Reichen leer ausgehen.» (Lk 1,53). Oder auch in seinen Weherufen, die er seinen Seligpreisungen folgen lässt: «Aber weh euch, wenn ihr reich seid; denn ihr habt keinen Trost mehr zu erwarten. Weh euch, wenn ihr satt seid, denn ihr werdet hungern.» (Lk 6,24-25). Am vielleicht drastischsten aber zeigt sich die Kritik des Reichtums von Jesus im Lukasevangelium in der Geschichte des reichen Mannes und des armen Lazarus (Lk 16,19-31). Während der arme Lazarus nach seinem Tod von den Engeln in den Schoss Abrahams getragen wird, leidet der Reiche in der Unterwelt qualvolle Schmerzen und unerträglichen Durst.
Die Suche nach den Verlorenen
Diese schroffe Sozialkritik an den Reichen und Mächtigen findet ihren entscheidenden Kontrapunkt in der Zuwendung von Jesus zu den Armen und Entrechteten, den Sündern und Verlorenen. Auch die Frauen, in der damaligen Zeit besonders ausgegrenzt, spielen im Evangelium des Lukas eine wichtige Rolle. Gerade das Lukasevangelium zeigt so das menschenfreundliche Antlitz Gottes, das sich in Jesus offenbart. So sind es die sozial Ausgegrenzten, in den Worten des Lukas-Evangeliums «die Armen und die Krüppel, die Blinden und die Lahmen», die im Gleichnis vom grossen Festmahl am Ende statt der ursprünglich Eingeladenen am reich gedeckten Tisch sitzen (Lk 14,1524). Der lukanische Jesus zeigt auch keine Scheu im Umgang mit den verhassten Zöllnern, den damaligen Steuereintreibern, die gerne in die eigene Tasche wirtschafteten. Noch in der Stunde seines Todes wendet er sich dem mitgekreuzigten Übeltäter voller Vergebung und Liebe zu: «Amen, ich sage dir: Heute noch wirst du mit mir im Paradies sein.» (Lk 23,43). Und es ist sicherlich kein Zufall, wenn Lukas eines der schönsten Gleichnisse von Jesus ins Zentrum seines Evangeliums hineinstellt. Im Gleichnis vom verlorenen Sohn – das nur im Lukasevangelium steht und dort ziemlich genau in der Mitte – zeigt Jesus Gott als einen, der gerade diejenigen sucht, die als verloren gelten, die im Leben Gescheiterten, diejenigen mit dem fragwürdigen und liederlichen Lebenswandel. Gott gibt keinen Menschen je verloren, dies ist die wahrhaft frohe Botschaft gerade des Lukasevangeliums.
Lukas, der Psalmist unter den Evangelisten
Eine weitere Besonderheit des Lukasevangeliums ist auch, dass hier Jesus als vorbildlicher Beter dargestellt wird. Immer wieder zieht sich Jesus zum Gebet zurück oder hält sich im Tempel auf – so etwa schon der zwölfjährige Jesus, der zu seinen ihn suchenden Eltern sagt: «Wusstet ihr nicht, dass ich in dem sein muss, was meinem Vater gehört.» Das Lukasevangelium ist selber aber auch zu einer wichtigen liturgischen Quelle geworden, wichtige Gebete und Hymnen der liturgischen Tradition haben ihren Ursprung im Lukasevangelium. Neben dem Gloria, das sich aus dem weihnächtlichen Gesang der Engel ableitet (Lk 2,14), gilt dies besonders für die drei grossen Gesänge der Maria («Magnificat»), des Zacharias («Benedictus») und des Simeon («Nunc dimittis»). Diese drei Gesänge werden in der Tagzeitenliturgie verwendet und so im Grunde jeden Tag in der Liturgie gebetet: das Benedictus im Morgengebet der Laudes, das Magnificat in der Vesper, dem Abendgebet, und das «Nunc dimittis» im Nachtgebet, der Komplet. So prägt der Dichter Lukas die Liturgie bis heute. Besonders im kraftvollen Gebet der Maria, dem Magnificat, wird noch einmal – fast schon zusammenfassend – deutlich, um was es Lukas in seinem Evangelium geht: Um einen Gott, der die gewohnten Verhältnisse auf den Kopf stellt und für die Armen, Verlorenen und Entrechteten da sein will. Im Magnificat wie im ganzen Lukasevangelium zeigt sich in Jesus das menschenfreundliche Antlitz Gottes.
Thomas Zellmeyer
Das Lukasevangelium lesen «Nimm und lies!» – einige besonders wichtige Stellen aus dem Lukasevangelium: o Das Magnificat der Maria: Lk 1,46-55 o Die Weihnachtsgeschichte: Lk 2,1-20 o Das Beispiel vom barmherzigen Samariter: 10,25-37 o Das Gleichnis vom verlorenen Sohn: Lk 15,11-32 o Die Begegnung mit dem Auferstandenen auf dem Weg nach Emmaus: Lk 24,13-35
Serie zu den vier Evangelien
Die Vielfarbigkeit der frohen Botschaft
Mit einem Beitrag zum Lukas-Evangelium beginnt in dieser Ausgabe des Christkatholisch eine Serie zu den vier Evangelien. Die Serie will die spezifische Eigenart der jeweiligen Evangelien aufzeigen.
Im vergangenen Jahr wurden im Gemeindebrief der Gemeinden Allschwil-Schönenbuch und Birsigtal in loser Folge vier Artikel veröffentlicht, die sich jeweils einem der vier Evangelien widmeten. Auf Anfrage der Redaktion stellen wir diese Beiträge gerne auch dem Christkatholisch zur Verfügung.
Welche Grundideen und Absichten steckten hinter unserer kleinen Evangelisten-Serie? Ganz sicher war es nicht unser Anspruch, eine ausgefeilte Exegese dieser vier Grundtexte des Neuen Testamentes zu liefern. Die üblichen Informationen über Entstehung, Autorschaft oder Adressatenkreis der Evangelien finden sich in unseren Texten nur am Rande. Für die Aufgabe, die Texte bibelwissenschaftlich zu analysieren, wäre die Form eines Artikels zu kurz, wir wären auch nicht die Fachleute dafür.
Uns ging es vielmehr darum, die Eigenart, sozusagen die spezifische «Farbe» der einzelnen Evangelien aufzuzeigen. Unsere Leitfragen waren: Was ist einem Evangelisten besonders wichtig? Wo werden die Schwerpunkte im Evangelium gesetzt?
Hinter diesen Leitfragen steckt auch die (vielleicht oftmals auch ernüchternde) Erkenntnis, dass es keinen unmittelbaren, direkten Zugang zur zentralen Person des Christentums, Jesus Christus, gibt. Wir können uns Jesus nur über die eben sehr unterschiedlichen Darstellungen der Evangelisten annähern. Unser Jesus-Bild ist also immer ein durch die unterschiedliche Perspektive der Evangelien geprägtes. Jedes dieser Evangelien zeigt eine ganz andere Facette von Jesus Christus und von Gott. Zugleich drückt sich in der kanonischen Vierzahl der Evangelien aber auch eine wichtige Besonderheit der jüdischen und christlichen Bibel, des Alten und Neuen Testamentes gleichermassen, aus. Es finden sich hier Texte nebeneinander, die sehr unterschiedlich sind, ja sich teilweise sogar widersprechen. Für uns ist das nicht Ausdruck eines Defizites, sondern einer grossen Stärke der biblischen Botschaft. Die Bibel erzählt die Heilsgeschichte Gottes mit seinen Menschen, die frohe Botschaft, im Plural nicht im Singular. Darin drückt sich aus, dass es auch zum Glauben einen sehr vielfältigen Zugang gibt. Die Vielfarbigkeit auch der Evangelien ist kein theologischer Mangel, sondern Ausdruck der Weite des christlichen Glaubens.
Die Serie über die vier Evangelien beginnt mit dem Lukas-Evangelium. Dies ist weder chronologisch (dann würde die Serie mit Markus beginnen), noch kanonisch (dann wäre das Matthäus-Evangelium als erstes an der Reihe) korrekt. Geschuldet ist dieser Beginn dem Umstand, dass einer der prominentesten Texte des Lukas-Evangeliums die Weihnachtsgeschichte ist.
Jeweils zum Abschluss der Beiträge, die sich lediglich als kurze Streiflichter verstehen, steht eine kleine Liste mit Leseempfehlungen aus dem jeweiligen Evangelium. Wenn unsere Serie Sie dazu animiert, die Evangelien selbst wieder in die Hand zu nehmen und darin zu lesen, dann wäre das natürlich eine schöne Folge. Nur wenn wir sie immer wieder neu – und vielleicht auch nebeneinander – lesen, zeigt sich in den vier so unterschiedlichen Evangelien die Vielfalt und Vielfarbigkeit und Fülle der frohen Botschaft.
Liza und Thomas Zellmeyer