Das nagende Gewissen im Angesicht der Weltlage: Was sollen wir tun?
Zerrissen zwischen Nächstenliebe und Fernstenliebe
Das Gewissen plagt. Die Nachrichten der Welt stürzen auf uns ein und konfrontieren uns mit Armut, Krieg und dem Leid, das Flucht und Vertreibung mit sich bringen. Das Gewissen plagt, weil sich die meisten von uns demgegenüber in einer äusserst komfortablen Situation befinden – die Schweizer Uhren ticken, trotz der alltagsumstürzenden Ereignisse anderswo, gleichmässig und im Takt weiter, das beruhigt und hält den Puls niedrig. Das Gewissen plagt, denn das unendliche Lebensglück, das wir im Grossen und auch nur im Kleinen geniessen dürfen, wirkt im Angesicht des Zustands unseres Heimatplaneten unverdient und wie ein Hauptgewinn in der Lebenslotterie.
Keine Frage: Das Gewissen als moralischer “Kompass” lässt uns dieser Tage nicht in Ruhe. Die Klimakatastrophe, der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine, die weltweiten Flüchtlingsbewegungen und noch vieles weitere lassen uns eine grosse Frage stellen:
“Müssten wir denn nicht eigentlich viel mehr tun, um das Leid der anderen zu lindern?”
Es mag auf den ersten Blick überraschen, doch ist diese Frage sozial-ethisch gar nicht so leicht zu beantworten. Selbstverständlich, Hilfe an sich ist human, tugendhaft und wer sie leistet, tut das Richtige. Wie ist aber das Wort “müssen” zu interpretieren? Haben wir tatsächlich eine echte, uns moralisch bindende Verpflichtung zur Hilfe? Und wenn wir diese Frage positiv beantworten können: Wie umfangreich wäre diese Verpflichtung dann?
Stellen wir uns zunächst der Frage, ob wir überhaupt zur Hilfe verpflichtet sind. Dabei scheint es zunächst so zu sein, dass es keine direkte und eindeutige Verbindung zwischen unserem Handeln und dem Leid gibt, das überall auf der Welt existiert: Sie und ich würden jede persönliche Schuld für die Entscheidung Russlands zum Überfall auf die Ukraine von uns weisen. Noch weniger würden Sie und ich uns das Hungerschicksal einer Familie in Burkina Faso oder das Elend von Armutsflüchtlingen an den Grenzen Europas als das direkte Ergebnis unserer alltäglichen Handlungen anlasten wollen.
Davon ausgehend könnte man ohne weiteres behaupten, dass wir keine Verpflichtung zur Hilfe haben, denn wir sind ja auch nicht schuld am Leiden der Menschen in der Ukraine oder in Afrika. Allerdings wäre uns wahrscheinlich trotzdem sehr unwohl bei der Vorstellung, dass wir auf der einen Seite ein Gewissen haben, das uns zum moralischen Handeln – nämlich zum Lindern des Leidens in der Welt – motivieren möchte, auf der anderen Seite aber überhaupt keine “echte” moralische Verpflichtung, dies auch zu tun. Gibt es einen Ausweg aus diesem moralischen Dilemma?
Für eine mögliche Lösung hat der US-amerikanische Moralphilosoph Thomas Pogge vor knapp zwanzig Jahren eine bestechende Argumentation gefunden. Ausgangspunkt war auch für ihn die Frage, wie wir in einer globalisierten Welt überhaupt noch so etwas wie moralische Pflichten für eine bestimmte Handlung begründen können.
Bevor wir uns Pogges Lösung zuwenden, müssen wir aber schnell noch anschauen, warum die Begründung moralischer Pflichten in unserer globalisierten Welt so problematisch ist. Nehmen wir zur Illustration ein einfaches Beispiel: Wenn Sie morgen ein neues Smartphone kaufen, ist das individualethisch gesehen überhaupt kein Problem. Sie schliessen einen Vertrag ab, bezahlen die vereinbarte Kaufsumme und nehmen das Gerät mit nach Hause. Damit haben Sie alles getan, was man von Ihnen moralisch verlangen kann. Was passiert aber, wenn morgen 10´000´000 Menschen dieses Smartphone kaufen? Dann sieht die Sache auf der Gesamtrechnung plötzlich ganz anders aus. Um diese Menge zu produzieren, sind grosse Mengen an seltenen Rohstoffen nötig, die häufig mit ausbeuterischen Methoden und unter Missachtung der Menschenrechte gewonnen werden. Gleichzeitig ändert sich für Sie unter moralischen Gesichtspunkten grundsätzlich nichts, denn wie im ersten Fall kaufen Sie ja immer noch nur ein Smartphone – und das gilt auch dann, wenn Sie dadurch unwillentlich Armut begünstigen, Menschen ausbeuten oder sogar Kriege finanzieren. Ihr Handeln als Einzelperson kann für sich genommen weiterhin als moralisch vollkommen akzeptabel bewertet werden.
Um dieses Dilemma aufzulösen, analysierte Pogge die Funktionsweise der globalisierten Welt und kommt zum – uns mittlerweile sehr naheliegenden – Schluss, dass wir keineswegs moralisch völlig unbeteiligte Akteur:innen sind, wenn wir uns ein neues Smartphone kaufen. Denn als Einwohner:innen wohlhabender Staaten halten wir durch grosse globale Institutionen und Organisationen – dazu gleich mehr – eine Weltordnung aufrecht, die systematisch zu unserem Gunsten funktioniert und uns als Mächtigen und Besitzenden grosse Vorteile auf allen Ebenen der globalen Welt verschafft. Indem wir diese Vorteile systematisch geniessen, verhalten wir Wohlhabenden uns nun nicht einfach nur nicht tugendhaft, sondern wir verletzen unsere moralische Pflicht, die Menschenwürde aller Menschen zu achten, zu schützen und ihre körperliche Integrität nicht zu verletzten.
Warum aber ist Hilfe nun nicht einfach nur geboten, sondern tatsächlich eine strenge, moralisch bindende Verpflichtung? Die Argumentation von Thomas Pogge stützt sich hier auf die Moralphilosophie von Immanuel Kant. Dieser hatte in seiner Grundlegung zur Metaphysik der Sitten hergeleitet, dass wir andere Menschen niemals nur als “blosses Mittel” und damit ausschliesslich zu unserem persönlichen Nutzen einsetzen dürfen. Ganz im Gegenteil müssen wir einander so behandeln, dass jeder sein Mensch-sein als zum moralischen Handeln fähige Person, als “Zweck an sich” leben kann; jeder soll die Freiheit besitzen, sein Leben autonom gestalten zu können. Das ist die Aussage des berühmten kategorischen Imperativs: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“ Dieser Imperativ rechnet letztlich auf unsere vernünftige moralische Einsicht, dass wir alle ein Teil der Menschheit sind und deshalb als «Zwecke an uns selbst» behandelt werden wollen.
Einsichtig wird damit unmittelbar, warum die Sicherung dieses absoluten moralischen Mindeststandards nicht einfach nur die Angelegenheit von tugendhaftem Verhalten sein kann, sondern tatsächlich moralische Verpflichtung ist: Weil wir sonst dem moralischen Status von uns Menschen das Fundament abgraben würden und jederzeit der Spielball fremder Interessen werden könnten. Wir haben also, zusammengefasst, die moralische Pflicht, alles zu unterlassen, was andere Menschen daran hindert, in gleicher Weise wie wir autonom ihr Leben zu gestalten. Und wir haben zugleich die moralische Pflicht, alle Umstände aus dem Weg zu räumen, die dies verhindern.
Nun ist die eine Seite eine ethisch nachvollziehbare Argumentation für oder wider etwas, die andere Seite aber die Frage der Umsetzbarkeit in einer unüberschaubar gewordenen Welt. Thomas Pogge schätzt dementsprechend auch ganz realistisch ein, dass es wohl nicht ausreichen wird, von jedem einzelnen Menschen eine Verpflichtung zum Unterlassen von schädigendem Verhalten und von Unterstützungsleistungen zu fordern. Pogge macht deshalb deutlich, dass es die systemischen Rahmenbedingungen der globalen Welt sind, die den moralischen Mindeststandards genügen müssen. Weltbank und Internationaler Währungsfond, UNO und Welthandelsorganisation – sie alle müssten viel strenger als bisher darüber wachen und mit weitreichenden Sanktionsmöglichkeiten garantieren, dass statt Ausbeutung Gerechtigkeit, statt Krieg Frieden, statt Vernutzung von überlebensnotwendigen Ressourcen Nachhaltigkeit und Vorsorge stehen.
Für einen letzten Punkt müssen wir wieder auf das Gewissen zurückkommen, dem eingangs eine so wichtige Rolle zugesprochen wurde. Die weitreichenden Aufgaben, die Thomas Pogge den globalen Organisationen übertragen will, entlasten uns und unser Gewissen ja nicht gänzlich davon, persönlich «mehr» tun zu wollen. Wir beobachten immer wieder, dass die oben genannten Organisationen versagen und ihrer Aufgabe, willentlich oder nicht, überhaupt nicht nachkommen oder tatsächlich das tun, was Macht, Reichtum und politischer Einfluss von ihnen verlangen.
Wir haben deshalb die Verantwortung, immer wieder den Finger in die Wunde zu legen und gegenüber unseren Politiker:innen, unseren Parteien, unseren Wirtschaftsverbänden und mit unserem eigenen Konsum deutlich zu machen, dass uns alle anderen Menschen angehen und nicht nur die Allernächsten aus der Familie oder dem Freundeskreis. Natürlich können und sollten wir auch – je nach unseren Möglichkeiten – direkte Unterstützung leisten. Dies aber auf wahrhaft christliche Weise: Nicht so, dass wir uns dabei selbst vergessen oder uns im Sinne einer moralischen Selbstverliebtheit einfach nur selbst besser fühlen («Seht her und seht, wie spendabel ich bin!»), sondern im Sinne von Mk 12,31: «Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.». Diese Aufforderung kann man im Blick auf diesen Beitrag auch so verstehen: Macht Ernst mit Eurem Mensch-sein und ermöglicht es anderen, ihre Leben selbstbestimmt zu gestalten! Bleibt nicht bei euch oder Euren Familien stehen, sondern lasst Euch ansprechen vom Nächsten, der auch am anderen Ende der Erde leben kann! Seid offen für diese Welt und lebt nicht nur in der nächsten!»
Michael Hartlieb