Der Apfel – oder warum es Sinn macht, dass wir als Kirche Erntedank feiern.
Schöpfungszeit und Erntedank
Das Erntedankfest ist in vielen Regionen ein traditionsreiches Fest. Bei uns in Möhlin gehören seit vielen Jahren z. B. Alphornbläser fest zum Gottesdienst dazu. Viele Menschen kommen auch deswegen in den Gottesdienst. Aber schöne Traditionen, auch wenn sie wichtig und liebgeworden sind, sind ja nicht der Grund für kirchliche Feste und Feiern. Vielleicht kann uns die Betrachtung einer vertrauten Frucht das Erntedankfest neu sehen lassen. Darum schaue ich mir einen Apfel mal etwas näher an und lasse meine Gedanken kreisen.
Erkenntisse über den Apfel
Der Apfel wird in der Malerei oder in der Poesie oft als Liebesfrucht verstanden. Aber er ist als Reichsapfel auch ein Zeichen weltlicher Macht und Herrschaft. Dann reden wir auch vom Zankapfel. Auf vielen Bildern sieht man Eva mit einem Apfel in der Hand, mit dem sie Adam in Versuchung führt. So wurde der Apfel im Laufe der Zeit zur Frucht vom Baum der Erkenntnis in der Mitte des Paradieses – obwohl die Bibel selber gar nicht sagt, um welche Frucht genau es sich handelt.
Ein Apfel kann an Erntedank für uns heute auch eine symbolische Frucht sein, an der man etwas verdeutlichen kann von der Bedeutung des Festes. Fangen wir an mit dem Stiel. Er erinnert an seine Herkunft. Der Apfel hing sprichwörtlich ab vom Baum, der ihn mit Wasser und Nährstoffen versorgte und ihm alles lieferte, was es für die Reifung brauchte. Am Erntedankfest machen wir uns unserer eigenen Abhängigkeit bewusst. Wir gestehen uns ein, dass nicht alles in unserer Hand und in unserer Kraft liegt, was mit uns geschieht. Wir können viel tun, auch für die Hege und Pflege der Früchte, aber wir haben das Wetter nicht in der Hand, wir wissen im Frühjahr noch nicht, ob im Sommer eine Plage kommt, z. B. Heuschrecken oder anderes Getier, das die Früchte oder gar die ganzen Pflanzen vernichten. Darum danken wir unserem Schöpfer für all das, was wir ernten, weil wir glauben, dass es bei allen menschlichen Fähigkeiten auch seinen Segen braucht, damit alles gedeihen kann. Das gilt für unser ganzes Leben und für alles, was es erhält und froh macht.
Und wir als Kirchgemeinde dürfen das auch zum Anlass nehmen, dafür zu danken, dass wir nicht losgelöst sind vom Rest der Kirche, sondern als Glied am Leib Christi Teil der Kirche sind, Teil unseres Bistums. Wir gehören zusammen und wachsen gemeinsam als Schwestern und Brüder, wie z. B. unsere Kirchgemeindeversammlungen, Synoden usw. immer wieder zeigen.

Sich entfalten können
Auf der entgegengelegenen Seite ist die ehemalige Blüte. Ohne sie gäbe es den Apfel gar nicht. Sie hat mit ihrer Schönheit und ihrem Duft die Reifung des Apfels erst ermöglicht. Ohne Blüte, die von Bienen und anderen Insekten bestäubt wird, wächst kein Apfel.
Auch wir kennen Menschen, die sich mit ihrem Leben, ihrer Zeit und ihren Ideen in unseren Dienst gestellt haben. Sie waren bereit, sich selbst zurückzunehmen und uns Wachstum zu ermöglichen. An Erntedank danken wir Gott für diese Menschen. Wir danken für ihre Lebensbegleitung und für ihre Sorge um uns. Wir danken für die Liebe, die wir erfahren, und die uns wachsen und selbstbewusst werden lässt. Auch hier dürfen wir dankbar sein für unsere Kirchgemeinde, in der engagierte Menschen dazu beitragen, dass das Gemeindeleben sich entfalten kann.
Aussen hat der Apfel die Schale. Jeder Apfel sieht ein bisschen anders aus, die Macken sind immer etwas anders verteilt. Sonne oder Hagel oder Insekten haben ihre Spuren in der Schale hinterlassen. An Erntedank dürfen wir Gott danken, dass jede und jeder von uns ein Original ist, mit einer ganz eigenen Geschichte, mit eigenen Macken und Schönheitsfehlern. Und wir dürfen für die Menschen danken, die uns mit alldem annehmen, schätzen und lieben.
Zum Glück nicht perfekt
Wir dürfen auch dafür danken, dass es bei uns so menschlich zugehen darf, dass wir nicht perfekt sein müssen, dass wir fehlbare Menschen und darum auch eine fehlbare Kirche sind, durch die Gott grosszügig wirkt. Das kann uns helfen, demütig zu bleiben und einander mit Wohlwollen und Nachsicht zu begegnen.
Unter der Schale hat der Apfel sein Fruchtfleisch. Viele Bedingungen mussten erfüllt werden, dass es saftig und süss heranreifen konnte. Vor allem eine: Zeit.
Wir können Gott danken, für die Zeit, die uns geschenkt ist. Manchmal mag sie uns knapp vorkommen, viel zu wenig für all das, was wir uns vorgenommen haben. Doch es liegt auch an uns, wie wir mit unserer Zeit umgehen. Wenn wir dankbar für unsere Zeit sind, fällt es uns leichter, sie als Geschenk Gottes zu geniessen und sich über jeden Moment zu freuen. Unsere Zeit bewusst zu erleben und anzunehmen kann uns helfen zu reifen, Überlegungen sorgfältig zu treffen, Entscheidungen gut abzuwägen. Sie ist – so wie das Fruchtfleisch des Apfels – ein Kraftspeicher. Und sie kann uns zur Kraft-Nahrung werden, wenn einmal wenig Zeit bleibt und die Hektik in unserem Leben Überhand nimmt.
Als Kirchgemeinde erleben wir die Zeit im kirchlichen und liturgischen Jahreszyklus, der uns vor Augen führt, dass Gott seine Kirche nicht verlässt, sondern ihr zu allen Zeiten Heil schenken will. So sind wir nicht einfach der Zeit unterworfen, sondern leben in dieser Zeit, die wir als von Gott gesegnete erfahren dürfen.

Fruchtbar sein
Im Inneren des Apfels finden wir die Kerne. Recht klein sind sie, aber sie bergen viel. Aus ihnen kann ein neuer Baum mit vielen neuen Früchten wachsen. Die Kerne stehen für die Absicht des Apfels, selbst einmal neue Frucht zu bringen.
Auch das gehört zu Erntedank. Aus der Dankbarkeit heraus wachsen in uns die Bereitschaft und der Anspruch, Frucht zu bringen. Wenn wir bewusst wahrnehmen, wie vieles uns geschenkt wurde, so ist das auch in einem guten Sinne Ansporn, sich dankbar zu erweisen, selbst zu schenken und Wachstum bei anderen zu ermöglichen. Auch dafür danken wir Gott. Es ist ein wunderbares Geschenk, dass wir im Namen Jesu Gemeinde, Kirche sind und alle mit ihren Lebens-, Leidens- und Liebesgeschichten hier ihren Platz haben. Jede Frau und jeder Mann, Junge und Alte, Gesunde und Kranke, Starke und Schwache, fest Glaubende und Zweifler – das sind die Kerne, das ist der Samen, aus dem neues Gemeindeleben wächst und Frucht bringen kann.
Der Apfel kann also ein anregendes Symbol sein und uns daran erinnern: Es gibt gute Gründe zum Danken – trotz allem. Übrigens, der Spruch «an apple a day keeps the doctor away» (ein Apfel pro Tag hält den Arzt fern) lässt mich in dem Zusammenhang dankbar schmunzeln.
Christian Edringer