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«Der dritte König hat Verspätung»

Caspar Und Balthasar
Die Heilige Familie mit den beiden Königen Caspar und Balthasar.

Eine wegen Verspätung nachgeholte Dreikönigsgeschichte

Es ist Weihnachtszeit. Alles ist weiss, und noch immer fällt in weichen Flocken der Schnee. Er legt sich schwer auf die Dächer, bleibt auf den Strassen liegen und glitzert unter den Lampen. Auf den Wollmützen von Kai und Lisa formt er kleine Häubchen.

Die beiden stehen vor dem Schaufenster einer Buchhandlung. Die neuesten Bücher sind ausgestellt, auch die letzten Weihnachtskalender. Aber Kai und Lisa bestaunen den Stall von Bethlehem, der ganz zuvorderst im Schaufenster steht. Zuhause haben sie selbst einen schönen Stall und alte Figuren. Ihre Urgrossmutter aus Hombrechtikon hat sie vor vielen Jahren aus Lehm selbst gemacht. Vor Weihnachten dürfen Lisa und Kai alles unter dem Baum aufstellen. Wie gut kennen sie schon die Weihnachtsgeschichte! Kais Lehrerin, Frau Eggenberger, kann sie wunderbar erzählen.

„Schau mal“, sagt Kai, da fehlt doch ein König?“

Das sieht jetzt auch Lisa. „Was steht denn auf diesem Zettel neben den beiden Königen?“

Kai liest vor: „ Der dritte König hat Verspätung.“

Die Buchhändlerin schaut über ihren Bildschirm hinweg auf die Kinder vor dem Schaufenster. Die beiden stecken die Köpfe zusammen und diskutieren aufgeregt. Dann stieben sie durch den Schnee davon. Die Buchhändlerin beugt sich wieder über ihre Listen. Sie lächelt.

Der Heiligabend ist da. Die Kerzen leuchten am Baum und spiegeln sich in den farbigen Kugeln. Es duftet nach Tannenharz und Wachs. Unter dem Baum steht der alte Stall mit Maria und Josef, dem Christkind in der Krippe, mit Ochs und Esel. Ein Engel schwebt über der Krippe. Draussen drängen sich die Hirten mit den Schafen, und die Könige tragen ihre Geschenke herbei.

Melchior, der dritte König, stösst später dazu.

Die Mutter erzählt die Weihnachtsgeschichte, von der Reise nach Bethlehem, von der Geburt im Stall, von den Engeln und den Hirten auf dem Feld… „Da kamen auch die drei Könige aus dem Morgenland zu Jesus im Stall. Sie waren dem hellen Stern gefolgt und…“

„Mama, schau mal, es sind doch nur zwei?“ Kai deutet auf den Stall. Da stehen tatsächlich nur zwei Könige.

„Na na, Kai“, sagt der Vater. „Doch, Papa, es sind nur zwei“, sagt jetzt auch Lisa. „Der dritte hat Verspätung.“

Da lacht die Mutter. „Wo bleibt er denn so lange“? fragt sie.

Da hören die Eltern von den Kindern eine ganz neue Geschichte: Der dritte König will dem Christkind unbedingt seinen Goldschatz bringen. Den hat er vor Jahren im Sand vergraben, weil damals Diebe in der Gegend waren.
Jetzt geht er das Gold ausgraben. Es liegt am Fuss der Dattelpalme, wo das Kamel angebunden ist. Genau gegenüber dem Kamel, auf der anderen Seite des Stamms, hat er den Schatz versteckt. Das hat er sich gut gemerkt. Also gräbt er munter drauflos, das Kamel wacht auf und blinzelt ungnädig. Das Loch wird immer tie-fer – aber keine Spur von Gold. Da steht das Kamel langsam auf, weil der Schatten der Palmblätter sich etwas verschoben hat. Dort lässt es sich wieder nieder. Jetzt merkt der weise König, dass er rund um die Palme aufgraben muss. Nach einem Tag und einer Nacht findet er das Gold.

Nun stellt Kai den dritten König zu den anderen. Zwischen dessen Händen aus Lehm steckt ein Knäuel Goldfolie.

„Na, das ist ja eine ganz tolle Geschichte“, sagt der Vater. Sagt mal, wozu braucht eigentlich das Christkind das ganze Gold?“

„Das ist nur ein Zeichen, hat Frau Eggenberger erzählt. Es bedeutet, dass das Christkind ein König ist.“

Hans Wäber