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Der katholischen Kirche laufen die Leute davon

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Der Missbrauchsskandal führt zum Exodus – ohne die engagierten Kirchgänger droht das Gemeindeleben zu veröden

Quelle: Simon Hehli, NZZ, 3. Oktober 2023

Dass es in der katholischen Kirche der Schweiz über Jahrzehnte hinweg zu Missbrauch von Kindern und Jugendlichen gekommen ist: Das wusste man schon vorher. Ebenso, dass die Bischöfe systematisch wegschauten oder Übergriffe sogar aktiv vertuschten, indem sie fehlbare Priester einfach versetzten. Dennoch hat die am 12. September veröffentlichte Missbrauchsstudie der Universität Zürich im Auftrag der Bischofskonferenz die Kirche in ihren Grundfesten erschüttert.  Erstmals hat man eine konkrete Ziffer: Mindestens 1000 Fälle hat es seit 1950 gegeben. Die wirkliche Zahl dürfte noch einiges höher sein. Drei Wochen sind seither vergangen – und bereits macht sich der Missbrauchsskandal bei den Mitgliederzahlen bemerkbar. Das zeigt eine Umfrage von SRF bei Kirchgemeinden in der ganzen Schweiz. In Basel-Stadt gab es in den 14 Tagen nach der Publikation der Studie 140 Austritte. Normalerweise sind es in der gleichen Zeitspanne rund  «Wir merken, dass viele Engagierte oder Kirchenmitglieder tief verunsichert sind», sagte Barbara Kückelmann, Pastoralverantwortliche im Bistum Basel, in der «Tagesschau».  In anderen Gegenden zeigt sich das gleiche Bild. In den vier grössten Kirchgemeinden des Kantons Zürich, also in Zürich, Winterthur, Uster und Dübendorf, kehrten fast 800 Personen der Kirche den Rücken. Auf diese Zahl kommt man in normalen Zeiten in drei Monaten.In Luzern gab es bisher 160Austritte, das sind zwölfmal so viele wie sonst. In der Stadt St. Gallen hat sich die Zahl verfünffacht. Und auch im Wallis, einer Hochburg des Katholizismus, wo es normalerweise kaum Austritte gibt, verlassen nun viele Menschen die Kirche.

Reformierte leiden mit

 Der Verein «Kirchenaustritt»,der auf seiner Website Austrittswilligen Unterstützung anbietet, bemerkt die Absatzbewegung ebenfalls.Die Nachfrage sei so hoch wie nie, sagt der Vereinsgründer Stefan Amrein. Auf der Website habe es im Vergleich zur selben Periode im Vorjahr 10bis 15-mal so viele Zugriffe gegeben. In den Kirchen in der Schweiz bleiben immer mehr Bänke leer.  Überraschend kommt diese Entwicklung nicht. Bereits im Jahr 2010 schoss die Zahl der Austritte aus der katholischen Kirche nach oben. In jenem Jahr gab es erstmals eine Häufung von Berichten über sexuelle Übergriffe in der Schweiz.Für besonderesAufsehen sorgte der Dokumentarfilm «Das Kinderzuchthaus», der sich den Misshandlungen im katholischen Kinderheim Rathausen im Kanton Luzern widmete. Im März 2010 sahen sich die Oberhirten zu einem «mea culpa» gezwungen: Die Bischofskonferenz entschuldigte sich bei den Gläubigen für den Missbrauchsskandal.  Nach dieser ersten Abgangswelle beruhigte sich die Situation für ein paar Jahre,aber ab 2019 nahm die Zahl wieder stark zu. 2021 gab es laut der Kirchenstatistik des Schweizerischen Pastoralsoziologischen Instituts (SPI) den bisherigen Spitzenwert mit rund 34 000 Austritten aus der katholischen Kirche. Die gegenwärtige Empörung dürfte zur Folge haben, dass es einen neuen Rekord gibt. Und dass die Konfessionslosen, die 2021 noch knapp hinter den Katholiken lagen, definitiv zur grössten Bevölkerungsgruppe des Landes werden.  Aufgrund der Erfahrungen der letzten Jahre müssen auch die Reformierten böse Vorahnungen haben: Obwohl sie mit den Missbrauchsskandalen nichts zu tun hatten,entwickelten sich bei ihnen die Austrittszahlen bisher praktisch parallel zu jenen der Katholiken. Das ist ein Symptom dafür, wie kirchenfern grosse Teile der Bevölkerung geworden sind: Sie unterscheiden nicht einmal mehr zwischen den beiden grossen Landeskirchen.  Laut Arnd Bünker vom SPI sind es bei den Reformierten vor allem die Distanzierten, die die Kirche verlassen. Sie haben schon lange keinen Gottesdienst mehr besucht und merken irgendwann, dass sich mit einem Austritt auch noch Geld sparen lässt. Bei den Katholiken hingegen gibt es unter den Abtrünnigen einen beträchtlichen Anteil von Personen, denen die Kirche nicht egal ist. «Sie haben sich ein Leben lang stark engagiert, doch nun wenden sie sich enttäuscht ab – auch aus Ärger über die Widersprüche zwischen theoretischer und gelebter Sexuallehre», sagt Bünker.  Anders als bei den Reformierten dürften sich diese Abgänge nicht nur bei den Kirchensteuern negativ bemerkbar machen. Oft sind Frauen, die im offenen Geist der Jahre nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962–65) aufgewachsen sind, wichtige Stützen einer katholischen Pfarrei. Wenn sie davonlaufen, frustriert über die Reformunfähigkeit ihrer Kirche, hinterlassen sie eine grosse Lücke. Es kommt zu einer Dynamik, wie sie die Theologin Maria Regli in der «NZZ am Sonntag» anschaulich beschreibt: Gehen aufgeschlossene Kirchgängerinnen,erhalten die Konservativen mehr Gewicht – die verbliebenen Progressiven fühlen sich in der Kirche noch fremder und geben irgendwann ebenfalls auf. «Wenn die Kirche so weitermacht, wird sie zu einer Sekte», sagt Regli. 

Viele Passivmitglieder

 Dank der Zuwanderung aus Südeuropa, Bayern oder Polen ist die absolute Zahl der Katholikinnen und Katholiken in den vergangenen Jahrzehnten zwar ziemlich stabil bei rund 2,5 Millionen geblieben, während diejenige der Reformierten stark geschrumpft ist. Doch viele dieser Katholiken sind Passivmitglieder. Ohne die sozial besonders engagierten Gläubigen droht das Gemeindeleben zu veröden.  Reformkatholiken hätten eigentlich eine Alternative: die christkatholische Kirche, die einst aus Protest gegen das Dogma der päpstlichen Unfehlbarkeit entstanden ist. Die Christkatholiken unterscheiden sich in der Liturgie kaum von den Katholiken, dafür aber in vielen Punkten, die Progressive an der katholischen Kirche kritisieren: Bei den Christkatholiken können Frauen zu Priesterinnen geweiht werden, es gibt keine Zölibatspflicht, Homosexuelle und Geschiedene dürfen kirchlich heiraten. Zudem ist die Kirche nicht streng hierarchisch organisiert.  Doch trotz den Austritten bei den Katholiken erleben die Christkatholiken keinen Boom. Laut Arnd Bünker hat das vor allem damit zu tun, dass die Christkatholiken mit nur rund 10 000 Mitgliedern nicht die kritische Grösse haben, um für enttäuschte Katholiken zur Zufluchtsstätte zu werden.Ausserhalb ihrer Kerngebiete im Fricktal, in Solothurn und in Basel existieren nur in grösseren Orten überhaupt christkatholische Gemeinden. In der Schweiz gebe es praktisch keine Konversionen von einer Landeskirche zur anderen, sagt Bünker. «Wer aus der katholischen Kirche austritt, bleibt in der Regel konfessionslos. Die intensiv Religiösen suchen sich andere Formen, ihren Glauben auszuleben, fern der institutionellen Religion.»

Quelle: NZZ, 3. Oktober 2023
Text von Simon Hehli
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