Die Katze anbinden
Wir verbringen den ersten Teil des Lebens damit, Dinge anzusammeln, um im zweiten Teil des Lebens, die Dinge und Situationen, die sich angesammelt haben, zu beseitigen – wir wollen uns immer mehr vereinfachen und befreien. Wir erkennen dann, dass wir uns viele Regeln, in denen wir gefangen sind und die wir für so wichtig halten, selbst auferlegt oder durch die Familie erhalten haben; wir haben nie wirklich darüber nachgedacht, so dass wir sie genauso gut ändern könnten. Der Befreiungsprozess beginnt mit einem ständigen offenen, aber fairen inneren Dialog; wir befreien uns von Definitionen, von den Mustern, die wir unser ganzes Leben lang wiederholt haben, befreien uns von Rollen, die uns in der Familie zugewiesen wurden, von den Erwartungen anderer Menschen und auch von unseren eigenen Erwartungen an uns selbst.
Dadurch erlangen wir die Freiheit, uns zu verändern, zu sein, wer wir wirklich sind, von Augenblick zu Augenblick; wir erlauben uns, so viel mehr zu sein als das, was wir bisher zum Ausdruck gebracht haben. Denn wir sind der größte Kerkermeister unserer selbst. Und Jesus von Nazareth ist ein grosser Lehrer in diesem Prozess der Befreiung.
Die römisch-katholischen Tessiner haben derzeit einen sehr guten apostolischen Verwaltungsbischof, der sie bis zur Ernennung des neuen Bischofs verwaltet. Er selbst kann es nicht werden, weil die Regel, die sie sich selbst gegeben haben, einen Tessiner Bischof verlangt und er es nicht ist. Es scheint also, dass eine gute Person aus Respekt vor einer Regel, die sicherlich nicht göttlich ist, aufgegeben werden muss. Und für uns von aussen sieht es so aus, als ob sie eine Chance verpassen. Für uns gilt das auch, da wir unseren Bischof/unsere Bischöfin nur aus dem Kreis der Priester und Priesterinnen unserer Pastoralkonferenz wählen, die das Schweizer Bürgerrecht haben, und nicht unter allen unseren Geistlichen. Die Regeln in unserer Kirche, die Grenzen, die wir uns selbst auferlegen, denen wir einen tiefen Sinn geben, sind vielleicht nicht mehr alle in der heutigen Welt nötig – einige müssen gemeinsam neu überdacht werden. Dies ist nur ein Beispiel für das Ringen darum, Regeln richtig zu befolgen, ohne sie zu etwas werden zu lassen, das die Entfaltung des Lebens erstickt.
Deshalb bieten wir Ihnen diese kleine Geschichte an (Fazion, I canti perduti degli angeli): Das Schwierigste auf der Welt ist es gerade, die Sitten nicht in starre Regeln zu verwandeln und freie Menschen zu sein.
Vor einigen Jahrhunderten lebte in Rishikesh, Indien, ein berühmter Guru, der immer eine Katze bei sich hatte. Umgeben von seinen Jüngern zelebrierte er jeden Abend ein Ritual der Anbetung.
Da die Katze hin und her lief und die Versammlung störte, machte es sich der Guru zur Gewohnheit, sie vor der Zeremonie zu fesseln und gleich danach wieder loszubinden.
Als die Katze starb, bekam der Guru eine andere und behielt die Gewohnheit bei, auch diese anzubinden.
Der Brauch wurde nach dem Tod des Gurus weitergegeben, und Jahrhunderte später schrieben einige gelehrte Männer eine Reihe wichtiger Abhandlungen über den Nutzen und die tiefere Bedeutung des Anbindens einer Katze während der Zeremonie zur Verehrung himmlischer Wesen.