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Die spirituelle Sprache des Gegenübers verstehen lernen

Prof Berlis

Aber nicht nur das: Von Menschen, die in der Seelsorge arbeiten, wird angenommen, dass sie selbst ein geistliches Leben führen und als spirituelle Expertinnen und Experten in der Lage sind, andere Menschen auf deren Glaubensweg zu begleiten.

Wann lernen Theologiestudierende etwas über Spiritualität? An der Theologischen Fakultät in Bern gibt es bereits während des Studiums ein «Praktisches Semester»: Ein Semester lang lernt jeder bzw. jede Studierende ein paar Tage pro Woche die seelsorgerliche Arbeit in einer Gemeinde kennen. An den anderen Wochentagen werden die gemachten Erfahrungen in praktisch ausgerichteten Veranstaltungen an der Uni vertieft.

Die spirituelle Sprache meines Gegenübers lernen

Das Praktische Semester bietet eine ausgezeichnete Gelegenheit, sich mit Spiritualität auseinanderzusetzen: der eigenen und der von anderen. Mehrmals habe ich deshalb während des Praktischen Semesters eine Veranstaltung über «Geistliche Praxis im Christentum, seit der frühen Kirche bis heute» angeboten. Die Studierenden sollten geistliche Traditionen der West- und Ostkirche kennenlernen: von der Jesusbewegung über die Anfänge des Mönchtums in der alten Kirche, mystische Strömungen und geistliche Erneuerungsbewegungen in Mittelalter und Neuzeit bis hin zu heutigen geistlichen Aufbrüchen.

Eine reguläre kirchenhistorische Veranstaltung würde weitgehend reflexive Distanz wahren: Träger und Formen von Spiritualität würden vorgestellt und dabei historische Konstanten und Veränderungen im Verständnis von geistlichem Leben aufgezeigt. Im Kontext des Praktischen Semesters kommt eine Dimension dazu: Studierende sollen ihre eigene Praxis bewusst einbeziehen und so historisches Wissen mit der Frage nach heutiger spiritueller Alltagspraxis verbinden. In ihrer Begegnung mit historischen und heutigen Menschen fragen sich die Studierenden: Wie werden Menschen religiös geprägt und wie kommt das zum Ausdruck in der Art, wie sie ihr Leben deuten und gestalten? Wo schlagen sie eigene Pfade ein? Es geht darum, dass Personen, die in geistlichen Berufen arbeiten, die spirituelle Sprache ihres Gegenübers verstehen lernen.

Die Sprache früherer geistlicher Traditionen verstehen

In der Uni-Veranstaltung beschäftigen sich die Studierenden mit historischen spirituellen Traditionen und ihren Quellen (Texten, Praktiken, Personen). Wenn wir Texte aus anderen Zeiten lesen, werden wir oft mit Denkmustern konfrontiert, die uns fremd sind. Die Auseinandersetzung damit führt uns im besten Fall zu einem tieferen Verständnis darüber, wie und wo Menschen früherer Zeiten Nahrung für ihren Glauben fanden. Alte Quellen können – einfühlsam gelesen – auch für Menschen von heute geistliche Nahrung bereit halten und sie dabei unterstützen, zeitgemässe Formen einer eigenen Spiritualität im Alltag zu entwickeln.

Am Anfang einer Veranstaltung bat ich die Studierenden, einander zu berichten, wodurch ihre eigene Spiritualität geprägt worden ist. In der Regel begannen reformierte Studierende, über biblische Geschichten zu erzählen, während christkatholische Studierende über ihre Erfahrungen in der Liturgie sprachen. Wir diskutierten auch darüber, ob es einen Unterschied zwischen der «privaten» und der «kirchlichen» Spiritualität der Pfarrperson gebe. Solche Gespräche machen sichtbar, wie sich Auffassungen über die Rolle der Pfarrerin oder des Pfarrers wandeln. Sie zeigen auch, wie wichtig es für Studierende ist, auf dem Weg ins Pfarramt oder in einen anderen theologisch geprägten Beruf, überprüfen zu können, inwieweit die eigenen Vorstellungen kompatibel sind mit überkommenen Erwartungen.

Geistliches Leben ist kein «theoretisches» Thema. Es betrifft auch die eigene Person und Persönlichkeitsentwicklung. Wer sich auf das Gespräch einlässt mit historischen geistlichen Praktiken und mit heutigen Menschen über ihr geistliches Leben, kann viel für den eigenen geistlichen Weg gewinnen.

Das Theologiestudium und insbesondere das Praktische Semester bieten Studierenden Raum, Studienwissen und Lebenswissen miteinander zu verknüpfen; dies geschieht bei der Entwicklung eines professionellen Umgangs damit, aber auch im Lichte der Selbstvergewisserung darüber, was das eigene Leben spirituell trägt.

Angela Berlis