Ein jüdischer Kulturweg im Surbtal
Mit Erika Clarisse, einer profunden Kennerin des jüdischen Kulturweges (Bild Seite 5, oben), hatte ich vor dem Friedhof (Bilder Seite 5, Mitte/unten) ein Treffen abgemacht. Er liegt genau zwischen Lengnau und Endingen. Ich wartete auf der roten Sitzbank mit der Aufschrift: «Hier zusammen ‘Melnitz’ treffen!» Heisst so nicht der Roman von Charles Lewinsky, der monatelang auf Platz 1 der Bestsellerlisten stand und in viele Sprachen übersetzt wurde? Inzwischen kam die Führerin und sagte mir, dass vor 150 Jahren in Endingen dieser Familienroman der Meijers beginnt und bis zum Jahr 1945 reicht. Fast 200 Seiten lang handelt das Buch nur in Endingen – was für ein Lachen und Leiden, welche lebendige Menschlichkeit.
Neben Lengau war Endingen das einzige Dorf in der Eidgenossenschaft, in dem den Juden vom siebzehnten bis ins neunzehnte Jahrhundert die dauerhafte Niederlassung erlaubt war. Ihr Aufenthaltsrecht mussten sich die Jüdinnen und Juden alle 16 Jahre von der eidgenössischen Tagsatzung erkaufen. Die Orte, welche die Grafschaft Baden regierten, erteilten Schutz und Schirmbriefe. Der Landvogt von Baden regelte die Niederlassungsbedingungen und die Beziehungen zur nichtjüdischen Umwelt. Doch auch dann blieb den Juden der Erwerb von Grund und Boden, ein Bauernbetrieb, sowie die Ausübung eines Handwerks nicht erlaubt. So übte Salomon Meijer, der gemütsvollkantige Patriarch der Romanfamilie, das Gewerbe eines Viehhändlers aus, was ihn zu Wohlstand brachte. Die innerjüdische Konkurrenz war gross und durch die Ausbreitung des Eisenbahnnetzes noch ungünstiger, da sich christliche Konkurrenten frei niederlassen durften. Man warf den Juden vor, Hausierer zu sein – doch viel anderes blieb ihnen gar nicht übrig. Die Romangeschichte nimmt weiter ihren Lauf und erzählt, was vielen Jüdinnen und Juden geschah und ist für sie ein literarisches Denkmal.
Ein eigener Dialekt: Surbtaler Jiddisch
Von meinem Vater habe ich eine kleine Schellack-Plattensammlung mit dem dazugehörigen Grammophon. Eine der Sprechplatten hörte ich gern: «Surbtaler Jiddisch» – da klangen Lieder, Gespräche, Texte … Angge, Batze, Kaff, Moos, Schlamassel, kumt oh haalig Schpejsischznacht. Ich verstand kein Wort. Florence Guggenheim schrieb im Begleitheft, dass es ihr seit 1939 ein Anliegen war, den vom Aussterben bedrohten Dialekt der Endinger und Lengnauer Jüdinnen und Juden, der ihr von ihrer eigenen Familie her vertraut war, auf Schallplatte aufzunehmen, um ihn der Nachwelt zu erhalten. Sie staunte, wie viel an alten Traditionen, Rezepten, Texten, Melodien noch bis in die 50er Jahre bei den älteren Leuten erhalten geblieben sind.
Wie hört sich das «Jiddisch-Daitsch» denn an? Eine Anekdote aus dem Surbtal mag sie ein bisschen hörbar machen, nicht ohne den feinen Witz mit seiner eigentümlichen Prise Ironie. «Der Itzig is geloffe of der Schtrauss: Der Wind hot em de Hut abgejajt. Kunt der Schmule und fregt: ‘Itzig, wu laafschte?’ – ‘Wu ich laaf? Fraug mai Hut.’» (Issacs Hut wird vom Wind fortgetragen. Samuel fragt ihn, wo er hingehe. «Frag meinen Hut.») Wie bei anderen jiddischen Dialekten werden Worte verwendet, die aus dem Hebräischen stammen. Im Surbtaler Jiddisch sind auch Wörter dabei, die auf eine romanische Sprache und auf die ganz eigene Viehhändlersprache (allein um 1844 gab es in Endingen 44 jüdische Viehhändler) und aufs Schweizerdeutsche und auch auf das ältere Schweizerdeutsche zurückgehen. Das Verschwinden des Surbtaler Jiddisch hängt direkt mit der Abwanderung aus den beiden ländlichen Gemeinden zusammen, wie Jürg Fleischer erklärte. Er ergänzt aber, dass das Surbtaler Jiddisch, ein Westjiddischer Dialekt, noch einige Zeit als Familiensprache gepflegt wurde und bis heute klingen jiddische Ausdrücke nach.
Friedhof: Der gute Ort
Der Friedhof, auch «Guter Ort» genannt, mit seinen grossen, kleinen und gebrochenen Steinen, Bäumen und Überwucherungen, erzählt Jahrhunderte alte Geschichten. Es war, als ob die Führerin Erika jeden Stein kennen würde. Sie deutet auf die gebrochenen Säulen, die anzeigen, dass jemand jung gestorben sein muss. Auf das Widderhorn, das davon spricht, dass hier ein Schofarbläser ruht. Auf den Krug, der ein Zeichen ist, dass der Verstorbene aus dem Geschlecht der Levi stammt. Manchmal ist es bloss ein Name oder ein Schriftzeichen, eines sieht aus wie ein Herz – man möchte verweilen. Bevor wir nach Lengnau und anschliessend nach Endingen gehen, halten wir inne. Dann werden wir entlang der Wegtafeln mehr von Geschichte und Bedeutung der Häuser erfahren: «Nirgendwo in der Schweiz existiert eine derartige Dichte an jüdischer Baukultur,» sagt Erika, um aber anzufügen, dass wir vor allem an die Menschen denken müssen, die mit ihrem Leben dahinterstehen.
Wir stehen vor einem Gedenkort, der uns still werden lässt und wir verneigen uns in Ehrfurcht. Ich lege einen Stein nieder, Sinnbild des Besuches, der Verbindung zum Leben. Dem Text auf dem Denkmal muss nichts hinzugefügt werden:
«Zum ewigen Gedenken an all jene, die während der Schoah statt einer Zuflucht den Tod und keine Grabstätte gefunden haben. Mögen ihre Seelen bewahrt sein in den Gefilden des Lebens.»

Emanzipation der Schweizer Jüdinnen und Juden
Für die lange andauernde Emanzipation der Schweizer Jüdinnen und Juden waren die «Judendörfer» wie sie im Volksmund genannt werden, Kristallisationspunkte. An ihnen lässt sich das Verhältnis des Christentums zum Judentum genauso wie das Verhältnis des Staates zu den verschiedenen Religionen ablesen. Wenn man das Surbtal als «Refugium» bezeichnen will, wohin viele Juden abgeschoben wurden, beginnt hier ein neues Kapitel der Geschichte der Jüdinnen und Juden in der Schweiz nach den Jahrhunderten der Verfolgung, Ausbeutung, Vertreibung, Missbrauch und Auslöschung während des Mittelalters. Auf engstem Raum hatte Alltag, Kultur und Religion von beiden Bevölkerungsgruppen – Juden und Christen – ihren Raum zu finden. Erst 1866 erhielt die jüdische Bevölkerung vom Bund die Freiheit, sich in der ganzen Schweiz niederzulassen und waren politisch gleichberechtigt.
Judentum und Augustin Keller
Auch Augustin Keller (1805 – 1883), der für die christkatholische Kirche eine sehr wichtige Bedeutung hat, spielt bei der Emanzipation der Jüdinnen und Juden im Kanton Aargau und in der Schweiz eine Rolle. Beim genauen Lesen der Originalschrift seiner berühmten «Empanzipationsrede» – nicht nach der Abschrift von Augusta Weldler-Steinberg – kann nicht verborgen bleiben, dass er gegenüber dem Judentum Vorbehalte hatte. Er stellte Forderungen, wie sich das Judentum zu verändern habe. Die Rolle Kellers wird neu zu untersuchen sein. Robert Uri Kaufmann hat angemerkt, dass es noch bisher unredigierte Schriften gibt. Trotz kritischer Fragestellungen resümiert er: «Die lange Debatte über die Emanzipation der Juden bildet in der Tat kein Ruhmesblatt in der Aargauer Geschichte des 19. Jahrhunderts. Der – wenn auch späten – Zivilcourage Kellers ist angesichts von massiven Widerständen Anerkennung zu zollen.»
Heute: Vermittlungsprojekt «Doppeltür»
Nach und nach verliessen fast alle jüdischen Familien das Tal. Bei vielen bleibt die Erinnerung, dass ihre Familie einmal im Surbtal wohnte. Die Gebäude geben Zeugnis von einer Zeit, als die Menschen um ein Zusammenleben ringen mussten und dabei neue, ungewohnte Wege fanden, was in anderen Gegenden der Schweiz nicht gelang. Die Wohnhäuser mit ihren Doppeltüren – die eine für Juden und die andere für Christen – kennzeichnen die Dorfbilder noch heute. Altbundesrätin Ruth Dreifuss ist Bürgerin von Endingen, ihre Familie ist aus dem Surbtal. Sie unterstützt ein Vermittlungs-Projekt, das sich «Doppeltür» nennt. Sie sagte bei ihrer Eröffnungsansprache 2019: «Die Doppeltür wurde zu einem Sinnbild für das Zusammenleben in einer vielfältigen Gesellschaft. Mit diesem Symbol wird die zwei Jahrtausende alte jüdisch-christliche Geschichte an einem lokalen Ort veranschaulicht, der das Bewusstsein für die bemerkenswerte Vergangenheit hervorrufen kann. Mit dem Sinnbild der Doppeltür soll so auch für die Zukunft das Bekenntnis zu Toleranz, Dialog und Zusammenleben gestärkt werden!»




In der nächsten Ausgabe: «Jüdischer Kulturweg – kurz und bündig».
Niklas Raggenbass
Bilder und Text