Jesus im Tempel
«Nun lässt du, Herr, deinen Knecht in Frieden scheiden, denn meine Augen haben das Heil gesehen, das du vor allen Völkern bereitet hast.»
(Lk 2, 29–31)
Zum Zeichen des Bundes sollte das Knäblein beschnitten werden. Dafür hat man es in den Tempel gebracht. Aber die Zeremonie wird unversehens zum Aufhänger für eine andere Geschichte. Jene vom greisen Simeon. Vom Heiligen Geist geführt, trifft er im Gotteshaus ein, begegnet der kleinen Familie, erkennt Jesus, nimmt ihn auf die Arme und stimmt Lobgesang an. Aus der Erkenntnis: Jetzt hat sein Leben den letztmöglichen Höhepunkt erfahren. Man ist versucht, zu sagen: Schön für Simeon. Aber dabei kann es ja nicht bleiben. Wir möchten wissen: Was ist in Simeon anders geworden nachdem er das Kind gesehen hat? Wir fantasieren etwas. Bisher war es das Gesetz, das seinen Umgang mit dem Göttlichen geregelt hatte. Gehorsam, rechtes Verhalten, eher starre Verhaltensmuster. Und jetzt, wenn auch ansatzweise schon vorher angekündigt, erscheint ein Kind. Angeblich der Messias. Noch klein, unscheinbar, und doch unübersehbar lebendig und präsent. Und alle Möglichkeiten der Lebensgestaltung sind ihm offen. Verheissungen für ein endlich versöhntes Leben und dann auch für ein Sterben in Frieden. Simeon hat offenbar seine ganze Daseinszeit um diesen Frieden gerungen – und ihn hier und jetzt gefunden. Darin ist er einer von uns. Und zugleich ein Hoffnungsbild. Vielleicht ist das der grösste Wert des Greisenalters, das «Gesetz», den «Gehorsam» hinter sich lassen zu können, um offen zu werden für die Versöhnung mit der eigenen Vergangenheit, den Frieden mit der eigenen Welt. Wohl denen, denen es gelingt.
Pfarrer emeritus Niklaus Reinhart