Ökumene ist alternativlos
Ökumene ist Kirche – immer Vielfalt: Auch wenn es schmerzt.
Was bedeutet Ökumene in der Kirche oder in den Kirchen, was bedeutet sie im Religionsunterricht? Immer mehr wird deutlich, dass es ohne Ökumene gar nicht mehr geht. Mit «Ökumenisch lernen – Ökumene lernen» ist ein Buch erschienen, auf das viele gewartet haben. Von protestantischer, römisch-katholischer und christkatholischer Seite her wurde daran mitgewirkt. Christina Auf der Au stellt uns das Buch mit seinen 19 Beiträgen in durchaus provozierender und kratzbürstiger Weise vor. Sie entwirft eine neue Sicht auf die Ökumene, deren Kennzeichen nicht das Streben nach Einheit ist, sondern das lernbereite Aushalten und achtsame Respektieren der Vielfalt.
Differenzierte Ökumene braucht einen langen Atem. Und doch, so schreiben es die Herausgeberinnen schon gleich zu Anfang: Zur Ökumene gibt es keine Alternative. Tatsächlich – auch und gerade wenn der russisch-orthodoxe Patriarch Kyrill den russischen Präsidenten Putin in seinem «Heiligen Krieg gegen die Ukraine und den Satanismus des Westens» unterstützt. Auch und gerade wenn das Schreiben des Vatikans über die Menschenwürde in der Gender-Theorie «die uralte Versuchung des Menschen, sich selbst zu Gott zu machen» heraufbeschwört und Abtreibung und den assistierten Suizid in die Nähe zu Mord und Völkermord stellt. Auch und gerade wenn Donald Trump mit seiner «God Bless the USA»-Bibel bei den amerikanischen Evangelicals die alte Verbindung von Christentum und Nationalismus triggert. Und auch und gerade wenn im letzten Jahr die Schweizer Kirchen ein Rekordhoch an Austritten hinnehmen mussten aufgrund der aufgedeckten Missbrauchsfälle hüben und drüben. Aber auch und vor allem: Immer weniger Menschen können nachvollziehen, dass unsere Kirchen etwas mit ihrem Leben zu tun haben könnten.
Charta Oecumenice
Schon 2001 sagt die Charta Oecumenica:
«Im Bewusstsein unserer Schuld und zur Umkehr bereit müssen wir uns bemühen, die unter uns noch bestehenden Spaltungen zu überwinden, damit wir gemeinsam die Botschaft des Evangeliums unter den Völkern glaubwürdig verkündigen.»
So klingt es auch durch die Artikel dieses Buches: Ökumene, weil wir uns dabei auf das Gemeinsame jenseits des Trennenden konzentrieren, weil wir in der Auseinandersetzung mit dem Anderen das Eigene entwickeln, weil in der Vielfalt der gelebten Glaubenstraditionen die Einheit des christlichen Glaubens gefunden werden soll. «Eine glaubwürdige und tragfähige Ökumene rechnet deshalb mit der Einheit», schreibt Abt Urban Federer – und sei es nur die Einheit, Gottsucherinnen und Gottsucher zu sein. Viele weitere Aspekte des Buches beleuchten das Streben nach Einheit, nach Zusammengehen, nach Überwindung der bestehenden Spaltungen. Die einzelnen Artikel sind natürlich noch deutlich differenzierter.
Herausfordernd das Ganze gegen den Strich bürsten
Erlauben Sie mir jedoch, im Folgenden das Ganze versuchsweise – ich gestehe: um der Provokation willen, aber vor allem auch um des gesellschaftlichen Diskurses willen – etwas gegen den Strich zu bürsten. Ist es wirklich das Ringen um Einheit, was wir hier und heute in unserer gesellschaftlichen, nationalen und weltweiten Lage am nötigsten haben? Natürlich ist es für uns als Christinnen und Christen buchstäblich grundlegend, dass wir keinen anderen Grund legen können als den, der gelegt ist: Jesus Christus. Aber weil diese Wahrheit keine Schrift und keine Lehre ist, sondern eine Person, ist doch die Vielperspektivigkeit darin schon angelegt – war schon angelegt im ersten Jünger- und Jüngerinnenkreis, in welchem auch schon früh Unterschiede aufgebrochen sind. Jesus musste einen Streit schlichten darüber, wer in seinem Jüngerkreis wohl der Grösste sei (Luk 22), und Paulus mahnt im 1. Korintherbrief die Irrelevanz der ersten «Konfessionen» an: «Denn wenn einer sagt: Ich gehöre zu Paulus, und ein anderer: Ich zu Apollos, seid ihr da nicht wie jedermann?» (1. Kor 3,4).
Für mich ist weniger das Bekenntnis erstaunlich, dass wir alle zu einem Leib gehören, vielmehr fasziniert mich, dass da so sehr Unterschiedliches zu diesem Leib dazu gehört. Hand und Fuss, Auge, Ohr und Nase – aber ja, auch Herz, Leber, Kniegelenk, Zirbeldrüse und Schlüsselbein, ja sogar der Blinddarm. So würde ich den Satz und die Betonung des Paulus gerne umdrehen: «So gibt es nur einen Leib, aber viele Glieder» (1. Kor 12,20). Es ist einfach, einig zu sein, wenn man sich auf das Verbindende konzentriert. Das kann jeder Algorithmus, der uns unsere Lieblingsvideos auf der «Foryou-Page» von Youtube oder im Suchangebot von Instagram anbietet. So landen wir in Filterbubbles – oder eben in der Kirche. Da gibt es auch Vielfalt, klar, aber es ist immer Kirche.
Als Kirche Vorbild sein: Nicht Einheit, sondern Vielfalt
Wie wäre es denn, wenn wir es betont umdrehen würden: Ökumene ist Kirche – aber es ist immer Vielfalt! Neben all diesem Beschwören der Einheit klingt es doch bei Heinrich Bullinger 1566 sehr viel entspannter, wenn er im zweiten Helvetischen Bekenntnis schreibt:
«Daher lesen wir, dass bei den Alten zwar mannigfaltige Verschiedenheit in den gottesdienstlichen Gebräuchen bestanden habe, dass sie aber eine freie Mannigfaltigkeit gewesen sei und niemand gedacht habe, dass dadurch die Einheit der Kirche je aufgelöst werde.» (17. Kap.)
Was für eine faszinierende Gemeinschaft von Menschen, die so entspannt mit Verschiedenheit umgehen können! Was für ein Vorbild könnten wir sein als Kirche in der heutigen Gesellschaft von Spaltungen und Polarisierungen, von Shitstorms und Cancel Culture, wenn wir nicht mehr vor allem die Einheit betonten, sondern vielmehr die Fähigkeit von Kirche in all ihren Formen und Ausprägungen, dem Anderen wirklich und respektvoll zu begegnen, ihn nicht nur zu tolerieren, sondern als Glied am Leib Christi anzuerkennen, bei bleibender Differenz und vielleicht sogar bei bleibendem Nichtverstehen, dort, wo es schmerzt! Auch und gerade wenn es schmerzt! Das ist die Herausforderung: Nicht das Gemeinsame zu suchen, nicht das Eigene, auch nicht das verbesserte Eigene, sondern das Andere, das Trennende, das Spaltende zu finden. Und diesem standzuhalten! Daran zu leiden, es nicht überbrücken können, einander nicht näher zu kommen – und doch daran festzuhalten, dass dies Ökumene ist, Ökumene sein muss. Faust versus Ellenbogen am Leib Christi.
Ökumenisches Lernen wäre dann zunächst dies: die freie Mannigfaltigkeit zu entdecken, ohne sie gleich in Eigenes umwandeln zu müssen; mit existenziellen Unterschieden umgehen zu lernen, ohne das Andere zu vereinnahmen; sich Andersdenkenden, Andersglaubenden auszusetzen, sich mit ihnen auseinanderzusetzen, zu streiten, zu ringen, ernsthaft und existenziell, ohne zu denken, dass dadurch die Einheit der Kirche je aufgelöst würde. Das Auge hat nicht für die Einheit des Leibes zu sorgen, ebenso wenig wie der kleine Zeh.
Mir ist nicht egal, was der andere tut
Dieses aktive, gleichermassen engagierte wie gelassene Sich Auseinandersetzen könnte ökumenisches Lernen vorleben. Von Kirche ist aber noch ein Weiteres zu erwarten. Denn Ambiguitätstoleranz, mit unauflöslichen Differenzen umgehen zu können, das ist das eine. Dabei aber nicht in einen Relativismus zu verfallen, das ist das andere. Es ist mir keineswegs egal, ob eine Gruppierung von Christinnen und Christen homophob, nationalistisch oder patriarchal ist. Es ist mir nicht egal, ob Frauen Pfarrerinnen und Priesterinnen werden können, ob gelehrt wird, dass die Ungläubigen in die Hölle kommen oder ob ein Land mit dem Segen der Kirche ein anderes überfallen darf. Das ist keineswegs gleichwertig oder einfach anders. Gerade weil Vertreter solcher Ansichten sich dabei auf das Evangelium berufen, gerade weil sie Teil des Leibes Christi sind – und bleiben! – gerade deswegen bin ich im höchsten Mass herausgefordert! Das Evangelium ist radikal universalistisch, Christus ist der nicht von uns gelegte Grund für alles, jenseits von Identitätstheorien und Zugehörigkeit.
So provokativ formuliert es Omri Boehm, der israelisch-deutsche Philosoph, in seinem Buch «Radikaler Universalismus. Jenseits der Identität». Er äussert die Sorge, dass die Menschenwürde schleichend relativiert und untergraben wird. Wie er möchte auch ich dazu aufrufen, das Christentum radikal und bleibend in universalen evangelischen Begriffen zu verstehen – nicht evangelisch als Konfession, sondern als gegründet im Evangelium Jesu Christi, welches wir allerdings nicht denkend einholen können. Das Evangelium ist dabei nicht als «Prinzip» zu verstehen wie die Menschenwürde, nicht als «Gesetz» wie die Gerechtigkeit, sondern als «Person». Eine Person, die wir nicht denkend und wissend erkennen können, sondern nur, indem wir mit ihr in Beziehung treten. Mit Jesus als dem Christus, durch die biblischen Texte, durch das Gebet und durch gottesdienstliches Feiern, wie auch – gut reformiert – durch den Heiligen Geist in der Gemeinschaft der Christinnen und Christen. In Beziehung also, nicht isoliert, sondern als Kirchen und als Kirche: feiernd, singend, betend, aber auch diskutierend, streitend, einander herausfordernd, ringend um die Wahrheit und die Einheit in bleibender Unterschiedlichkeit und genau darin als Leib Christi auf Erden.
Bleibende, fortwährende, heftige und existenzielle Streitkultur
Dies ist mein Plädoyer für die Ökumene – nicht in erster Linie als Ringen um Einheit, sondern als bleibende, fortwährende, zuweilen heftige und existenzielle Streitkultur, die den anderen radikal herausfordern kann und auch immer wieder muss. Sie setzt die Einheit in Christus voraus und kann einzig in dieser dialogischen Streitkultur in Beziehung zu diesem Christus und zu den Gliedern seines Leibes leben.
Dieser Sammelband unterschiedlicher Perspektiven ist ungeachtet seines «Drives» zum Verbindenden dabei ein wichtiger Beitrag. Nicht nur, weil er unterschiedliche Stimmen zu Wort kommen lässt und damit ökumenisches Lernen nicht anders als im Dialog denkt. Auch weil er nicht im Binnenbereich der Kirche bleibt, sondern darum ringt, im Austausch mit pluralen gesellschaftlichen Wirklichkeiten zu bleiben.
Die Ökumene ist alternativlos
Ökumenisches Lernen wird sich selbst durchsichtig als die Gabe des wechselseitigen Anerkennens des Anderen als Anderer. Diese Anerkennung ist mehr als Wahrnehmung, mehr als Zur Kenntnisnahme, sie ist eine Gabe aus der Freiheit eines Christenmenschen, der und die sich selbst als Glied des Leibes Christi weiss. Dabei achtsam zuhören, gegebenenfalls widersprechen – aber immer – immer! – im Gespräch bleiben: Zu dieser Ökumene gibt es keine Alternative. Nicht für die Kirche, und auch nicht für die Welt.
Christina Aus der Au
Christina Aus der Au
ist Philosophin und Theologin, sie lehrt an der Pädagogischen Hochschule im Thurgau Religionen, Ethik, Philosophie und Nachhaltige Bildung und ist seit 2022 Kirchenratspräsidentin der Evangelischen Landeskirche Thurgau.
Ökumenisch lernen – Ökumene lernen
Perspektiven für Religionsunterricht
und kirchliche Handlungsfelder
Hg. von Nicola Ottiger, Eva Ebel, Christian Höger,
mit zwei Artikeln von Pfr. Dr. Adrian Suter.
Ökumene in Theorie und Praxis – Reihe Ökumenisches Institut
Luzern (ÖTP), Band 14, 2024; Edition NZN bei TVZ
ISBN 978-3-290-20245-3