Traumberuf Organistin – Ein Lebensweg
Interview mit der Fricktaler Organistin Verena Bürgin
Seit vielen Jahren spielt Verena Bürgi in Hellikon und Zuzgen auf den beiden Orgeln, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Die passionierte Organistin hat in dieser Zeit vieles erlebt: Taufen, Erstkommunionen, Beerdigungen, Hochzeiten oder wenn der Pfarrer in einem Verkehrsstau stecken geblieben ist – es gibt wohl nichts, was sie nicht schon erlebt hätte. Nur eine Zeit wie die Coronapandemie, in der ein Lockdown keine Gottesdienste zuliess und das Singen nicht erlaubt wurde, war selbst für sie neu. Die Coronazeit gab der Orgel eine neue Dimension. Die Musik mit dem Herzen hören, damit die Seele singen lernt und wir erleben, wie jede Zeit ihre eigenen Lieder hat. Verena Bürgi sucht allen Gottesdiensten jenes Klima zu geben, das dem Unsagbaren und Geheimnisvollen einen Klang fühlbar macht und dem Glauben seinen Raum öffnet. Wir (NR) haben Verena Bürgi (VB) getroffen, damit sie uns ein Stück weit mit auf den Weg nimmt, der aus der kaufmännischen Angestellten bei Bally eine Organistin werden liess.
NR: Verena, heute wohnst Du im Fricktal, doch wo bist Du geboren?
VB: Ende November 1940 bin ich in einer christkatholischen Familie in Niedergösgen im Kanton Solothurn in der Kirchgemeinde Schönenwerd-Niedergösgen zur Welt gekommen. Mit 6 Jahren erkrankte ich an Kinderlähmung. Seither ist mein rechter Fuss gelähmt, was zum Orgel spielen also nicht ideal ist. Nach der Bezirksschule machte ich bei den Bally Schuhfabriken in Schönenwerd eine kaufmännische Lehre. Kurz nach dem Lehrabschluss erhielt ich von Bally die Möglichkeit, für achtzehn Monate in der englischen Zweigstelle in London und anschliessend für ein Jahr in ihrer französischen Zweigniederlassung in Paris zu arbeiten.
London oder Paris: Wo gefiel es Dir besser?
In England gefiel es mir sehr gut. Vieles war ganz unkompliziert, während es in Paris viele Hierarchien zu beachten gab; so etwa den eigenen Lift für die Geschäftsleitung vom Prokuristen an.
Wie ging es nach dem Leben in den Millionenmetropolen weiter?
Nach meiner Rückkehr aus Paris habe ich bis zu meiner Heirat als Direktionssekretärin bei Bally gearbeitet. Von 1971 bis 1987 wohnte ich mit meiner Familie in Hellikon. Zwischen 1970 und 1974 kamen unsere drei Kinder Kaspar, Clemens und Esther zur Welt. Seit der Trennung 1987 wohne ich mit meinem Partner, dem Journalisten Georges Rudolf, in Rheinfelden. Es erleichtert die Anreise zum Orgelspiel, wenn Georges den Taxidienst macht. Halbtagsweise habe ich von 1987 bis zu meiner Pensionierung 2004 in der Bibliothek des Geographischen Instituts der Universität Basel gearbeitet.
Welche Bedeutung hat für Dich die Musik?
Die Musik hat mir über viele schwere Situationen in meinem Leben hinweggeholfen. In meiner Kindheit lernte ich Klavier spielen. Zusammen mit meiner vier Jahre jüngeren Schwester Eva, die Geige spielte, habe ich oft musiziert. Meine Mutter hatte dabei einen Trick angewandt: Wenn wir in der Mittagspause auf den Instrumenten spielten, mussten wir den Abwasch nicht machen.
Bevorzugst Du eine Stilrichtung?
Ja, die Musik der Barockzeit. Sie bringt mich am besten zur eigenen Mitte. Dann die Musik von Johann Sebastian Bach. Eine Freundin von mir formuliert es so: «Wenn ich Bach höre, werde ich religiös!». Bachs Musik ist enorm reich und wunderbar. Sie führt uns in Höhen und Tiefen und auch zu dem, was wir Menschen manchmal fast verdrängen, dass wir nämlich verführbare, immer wieder scheiternde und verletzliche Wesen sind. Ich könnte mein Leben damit verbringen, Bachs Musik zu hören, zu ergründen und zu spielen. Man darf Bachs Musik als Auslegung der Bibel «lesen», denn nach dem damaligen protestantischen Verständnis war die Musik selbst eine Form der Predigt.

Wie bist Du denn zur «Königin der Instrumente» gekommen?
1977 musste Alfred Waldmeier, der Organist von Hellikon und ebenfalls leidenschaftlicher Handörgelilehrer, den wir liebevoll «Onkel» nannten, aus gesundheitlichen Gründen sein Amt niederlegen. Der Pfarrer vom Wegenstettertal, Prof. Dr. Urs von Arx, der Nachfolger des späteren Bischofs Hans Gerny (1962–2021), fragte mich deshalb, ob ich nicht den Orgeldienst übernehmen könnte. Einerseits freute mich diese Anfrage, andererseits wagte ich kaum, diese Herausforderung anzunehmen.
Warum diesen Bedenken und Zweifel?
Sicher sind es die viel zu hohen Ansprüche an mich selbst. Ausser zu Kinderliedern hatte ich seit meiner Jugendzeit nicht mehr Klavier gespielt; auch damals nur so schlecht und recht. Urs von Arx hatte das Talent, Freude an der Musik zu wecken – auch bei solchen, die sich für absolut untalentiert hielten. Er schaffte es, meine Bedenken zu zerstreuen und die Orgel aus ihrem Elfenbeinturm zu befreien. Pfarrer von Arx komponierte dafür eigene Stücke, wie das Lied «Aus vielen Körnern wird das Brot» (CG 445), das er in Hellikon zur Uraufführung brachte. Ziel war ihm immer wieder, zum aktiven Mitsingen und zum Orgelspiel zu motivieren: «Die Orgel gehört allen und nicht nur dem Kirchenchor!». Seither spiele ich mit sehr grosser Freude – wenn mich auch bis heute stets arges Lampenfieber plagt.
Wie ging es mit dem Orgelspiel los?
Ich begann sofort mit Orgelstunden. Als ich den ersten Gottesdienst mitgestaltete, konnte ich, ausser den Liedern, nur zwei Stücke – Eingang und Ausgang! Viele Jahre später nahm ich während einiger Jahre an den Sommerkursen bei Elisabeth Waldmeier-Fäs in Aarau teil. Ich besuchte den Kurs mit deren Mutter, der schlagfertigen und lustigen Ruth Fäs aus Hellikon, die mich mitzog und ganz neuen Schwung in die Gottesdienste brachte. Sie hat mich bestärkt, selbst etwas mutiger zu werden. Unvergessen ihre Fastnachtspredigten in Möhlin oder ihre provozierende Aufforderung beim Orgelunterricht: «Spiel öppis Appetitanregendes!».
Welche Bedeutung hat die Orgel beim Gottesdienst?
Ich denke, die Begleitung der Lieder ist sehr wichtig und kann wie eine Stütze sein, denn es lassen sich neue Lieder einstudieren, die man zunächst nur mit der Orgel spielt. So können sie über die Orgel langsam «par coeur» verinnerlicht werden. Sie kann einen Gottesdienst feierlich oder schlicht und einfach gestalten. Die Orgel kann auch Themen wie Freude, Trauer oder Ärger anklingen lassen. Neben der Liedbegleitung lässt sie eine eigene Atmosphäre entstehen.
Welche Lieder sind Dir am liebsten?
Immer wieder gerne spiel ich das «Sanctus» von Franz Schubert, das Bruder-Klausen-Lied, «Von guten Mächten wunderbar geborgen» von Dietrich Bonhoeffer oder die Taizé-Lieder, in die alle ohne Gesangbuch einstimmen können.
Kann man alle Lieder auf der Orgel spielen?
Ich bin noch keinem Lied begegnet, das ich nicht hätte spielen können.
Wie kann man am besten mit dem Orgel spielen beginnen?
Wenn man mit einem Tasteninstrument wie Klavier, Cembalo oder Keybord beginnt, kann dies ein Einstieg sein; Bedingung ist es meiner Meinung nach nicht. Mein Tipp: Einfach hinsetzen, spielen und überraschen lassen!
Was würdest Du einer Schülerin sagen, um sie für die Orgel zu begeistern?
Die Orgel bietet unglaublich viele Möglichkeiten. Sollten die Füsse noch nicht an die Pedale reichen – die Orgelbaufirma Goll hat dafür sogar eigene Pedalaufsätze konstruiert. Man kann den ganzen Kirchenraum mit Musik füllen. Sehr einfache Stücke klingen gut, die auf einem Klavier «mager» tönen. Man muss nicht nur klassische Musik spielen, sondern kann durchaus Melodien aus Pop, Jazz, Volksmusik, ja aus allen Stilrichtungen, auswählen. Und natürlich: Mit dem Orgelspiel kann man Gottesdienste mitgestalten und Musik ist ein ganz wichtiger Bestandteil der Gottesdienste und nicht bloss ein Zusatz.

Was kann das Orgelspiel denn besonders festlich machen?
Wenn man noch mit anderen Instrumenten spielen kann, wie etwa einem Alphorn, einer Trompete oder wenn man eine Solosängerin engagiert. Dies erfordert natürlich immer ein eigenes Proben. Eine Episode aus Hellikon mag – nicht ohne Augenzwinkern – illustrieren, was alles passieren kann: Vor einigen Jahren probte ich vor dem Gottesdienst mit einer Sängerin. Unten im Kirchenschiff unterhielt sich der damalige Sigrist lautstark mit einer Besucherin. Die Sängerin war erbost über diese Störung und rief von der Empore herunter, die beiden sollten ihre Lautstärke mässigen, das laute Reden störe beim Üben. Da rief der Sigrist ganz treuherzig: «Nein, nein, Sie stören uns überhaupt nicht».
Was hat sich in der Kirchenmusik in den letzten Jahren verändert?
Wir sind heute viel freier und offener in der Gestaltung der Gottesdienste. Vor vielen Jahren ist der Organist der Christkatholischen Kirche in Zürich entlassen worden, weil er bei einem Beerdigungsgottesdienst auf Wunsch der Angehörigen des Verstorbenen «O du lieber Augustin» spielte. Dies wurde im damaligen Christkatholischen Kirchenblatt veröffentlicht.
Wie ist es heute mit der Musikauswahl?
Man muss auch heute noch mit Fingerspitzengefühl auswählen. Noch vor einigen Jahren galt es als verpönt, wenn man Volkstümliches auf der Orgel spielte. Ich habe viel von Hannes Meyer (1938-2013), dem wohl populärsten Organisten der Schweiz, gelernt, dass der Gottesdienst nicht nur für die ganz Frommen zählt und nicht beim Sonntag beginnt und aufhört. Er hat das Repertoire der Orgelmusik enorm erweitert. Schlager, Jazz und Volkstümliches fanden für den Gottesdienst einen prominenten Platz. Ziel des Orgelspiels sei es, Jungen und Alten so etwas wie ein «klingendes Picknick» für ihren Alltag mitzugeben. Mit seinem Werk «Orgelspielbuch für Kirche, Schule und Haus» (1987) hat Hannes Meyer mir neue Wege gezeigt. Auch der lebendige und agile Wolfgang Sieber (1954) aus Luzern hat mich mit seinen «Toggenburger Bauerntänzen» ermutigt, Schräges, Ungewohntes zu riskieren. Der dritte im Bunde der Organisten, die zu neuen Visionen einladen, ist Stephan Thomas (1962). Mit den «Volksliedern» und seinen Versuchen, wie sich «Kultur und Kulinarik» mit der Orgelmusik verbinden lassen.
Was wünschst Du Dir?
Im Gottesdienst müsste es mehr Zeit für Stille und Meditation geben. So können wir unsere Anliegen vor Gott bringen – sind wir doch eingeladen, das Abendmahl zu feiern:
«In Brot und Wein
Urs von Arx, CG 445 – Musik und Refrain 1975/2003
ging Christi Liebe ein,
ging Christi Liebe ein
und schenkt uns Einigkeit!»
Niklas Raggenbass
Christustkirche St. Michael in Hellikon
Die Christuskirche in Hellikon ist nach den Plänen der Christuskirche Zürich-Oerlikon errichtet und 1948 eingeweiht worden. Dem Bau ging ein langjähriger Streit – der «Wegenstetter Kirchenstreit» – zwischen der römisch-katholischen und christkatholischen Kirchgemeinde voraus, der bis vor das Bundesgericht gebracht wurde. Wie sich die älteren Mitglieder der Kirchgemeinde noch erinnern können, ging es um die simultane Nutzung der Kirche. Die Orgel wurde 1952 von der Firma Mühleisen & Cie. in Strasbourg erbaut. Sie besteht aus dem grossen Hauptwerk und dem kleineren Werk, dem Rückpositiv. Die Orgel verfügt über 2 Manuale, Tastaturen, und ein Pedal für die Füsse. Das Hauptwerk besteht aus 8 Registern, das Rückpositiv aus 5 Registern. Mit einem Register kann eine bestimmte Klangfarbe erzielt werden. Damit kann man andere Instrumente wie Geige, Flöte oder Trompete imitieren – ein ganzes Orchester wird hörbar. (Rag)
St. Georgskirche in Zuzgen
1737 wurde vom damaligen Stararchitekten Giovanni Gaspare Bagnato in Säckingen der Bauvertrag zur späteren christkatholischen St. Georgskirche unterschrieben. Es entstand ein barockes Schmuckstück im Fricktal, wie Bischof Hans Gerny sel., damals Pfarrer im Wegenstettertal, nach den Restaurierungsarbeiten 1967-68 schrieb. Der erfahrene und einfallsreiche Architekt war ein ungeheuer produktiver Mann. Von ihm wusste man, dass er pausenlos von Baustelle zu Baustelle eilte. Er baute die Schlosskirche auf der Insel Mainau, arbeitete an der Barockisierung des Verenamünsters in Zurzach und der Stiftskirche Säckingen. Zudem übte er seinen Einfluss auf die Gestaltung der Klosterkirche St. Gallen aus.
Die Zuzger Orgel ist ein prächtiges Juwel und gehört zu den ältesten Kirchenorgeln im Kanton Aargau. 1767 schuf Johann Baptist Hug aus Freiburg im Breisgau die Orgel auf der hölzernen Chorempore. Dieser Befund korrigiert die Ansicht, sie sei das Werk des Silbermannschülers Johannes Hug (Edith Hunziker und Peter Honegger in «Die Kunstdenkmäler des Kantons Aargau»). Die Orgel hat ein Manual mit 4 Registern mit einem Tre-mulanten, der ein vibrierendes Windgeräusch und damit ein «Tremolo» simulieren kann. Das Pedal hat nicht die Normalgrösse und verfügt über keine eigenen Register, sondern ist an diejenigen des Manuals gekoppelt. Die gesamte Mechanik, die Windlade und das Pfeifenwerk sind original erhalten. Obwohl sie 50 Jahre nicht mehr spielbar war, konnte sie bei der Restaurierung in ihrer originalen Bauweise wieder hergestellt werden. (Rag)