Was ist eine Glaubensfrage?
Ist die «Ehe für alle» eine Glaubensfrage? Kann die Christkatholische Kirche der Schweiz eigenständig beschliessen, gleichgeschlechtliche Paare zu trauen, oder braucht es dazu einen Beschluss der Internationalen Bischofskonferenz? Oder allgemein gesprochen: Wie gehen wir mit Fragen des Glaubens um?
In seiner Enzyklika Mortalium animos von 1928 nimmt Papst Pius XI. Stellung zur ökumenischen Bewegung: Einheit der Kirche könne es nur geben, wenn es Einheit des Glaubens, der Lehre und der Leitung gibt. Dabei sei es «absolut unstatthaft, den… Unterschied zwischen den so genannten ‘grundlegenden’ und ‘nichtgrundlegenden’ Glaubenswahrheiten zu machen»; vielmehr müssten die anderen Christinnen und Christen, die bisher nicht der römisch-katholischen Kirche angehören, «sich der Lehre und der Leitung des Stellvertreters Christi unterwerfen und ihm gehorchen.» Der ganzen Lehre – billiger sei Einheit der Kirche nicht zu haben.
Einheit im Wesentlichen
Die altkatholischen Kirchen haben dies bereits damals anders gesehen: 1931 hielten sie im «Bonner Übereinkommen» mit den Anglikanern fest, die Vereinbarung kirchlicher Gemeinschaft verlange «von keiner Kirchengemeinschaft die Übernahme aller Lehrmeinungen, sakramentalen Frömmigkeit oder liturgischen Praxis, die der anderen eigentümlich ist, sondern schliesst in sich, dass jede glaubt, die andere halte alles Wesentliche des christlichen Glaubens fest.»
Nicht jede Lehrmeinung gehört zum Wesentlichen des christlichen Glaubens. Nicht jede Glaubensfrage ist so zentral, dass eine Meinungsverschiedenheit gleich die kirchliche Gemeinschaft in Frage stellt. Ob es ein Fegefeuer gibt, wie wir in der Kirche Maria verstehen, welche Symbolhandlungen wir zu den Sakramenten zählen: Das alles sind Fragen des Glaubens, aber sie gehören nicht zum Wesentlichen des Glaubens. Verschiedene Kirchen und konfessionelle Traditionen können hier unterschiedlicher Meinung sein, sind hier tatsächlich unterschiedlicher Meinung – und doch ist kirchliche Gemeinschaft trotz dieser Unterschiede möglich.
Dass nicht jede Glaubensfrage gleich zentral ist, hat sich 1964 auch in der römisch-katholischen Kirche durchgesetzt: Das Zweite Vatikanische Konzil sprach von einer «Hierarchie der Wahrheiten», die man im ökumenischen Dialog beachten solle. Andere Kirchen – auch die altkatholischen – haben diese Entwicklung sehr begrüsst. Nun war in der Ökumene endlich klar, dass man nicht in allen Detailfragen des Glaubens Einigkeit erzielen musste, sondern in den zentralen Glaubensfragen. Diese Aufgabe ist schwierig genug, weil man sich ja vielleicht gar nicht einig ist, welche Glaubensfragen die zentralen sind – aber es entlastet den Dialog doch ungemein.
Das Verfahren für Glaubensfragen
Was in der Ökumene gilt, das gilt auch in der Utrechter Union: Unterschiede zwischen den einzelnen altkatholischen Kirchen sind erlaubt, auch Unterschiede in Fragen des Glaubens, solange nicht das Wesentliche des Glaubens in Frage gestellt wird. Das ist leicht gesagt, erfordert aber grosse Sorgfalt in der Entscheidungsfindung. In der Verfassung der Christkatholischen Kirche der Schweiz ist ein Verfahren zur Stellungnahme in Glaubensfragen vorgesehen.
Es funktioniert so, dass die Glaubensfrage der Nationalsynode in zwei Lesungen vorgelegt wird. Unter Namensaufruf geben alle Mitglieder der Nationalsynode ihre Stellungnahme ab. Nicht nur Ja und Nein sind möglich, die Synodalen können auch eine eigene Formulierung zu Protokoll geben. Nach der ersten Lesung wird das Ergebnis der Internationalen Bischofskonferenz mitgeteilt und sie wird zur Stellungnahme eingeladen. In der zweiten Lesung geben die Synodalen wiederum unter Namensaufruf ihre Stimme ab, diesmal im Wissen um die Meinung der IBK.
Eine Stellungnahme zu Glaubensfragen hat an sich noch keine praktischen Konsequenzen. Die Synode entscheidet selbst, was aus der Glaubensfrage folgen soll, und zwar im ordentlichen Verfahren, mit Antrag, Debatte und Abstimmung.
Ortskirche und Bischofskonferenz
Braucht die Ortskirche – also wir, die Christkatholische Kirche der Schweiz – eine Erlaubnis der Internationalen Bischofskonferenz, um sich zu einer Glaubensfrage so oder anders zu äussern und daraus praktische Konsequenzen zu ziehen? Hier muss man differenzieren: Eine Erlaubnis der IBK ist nicht nötig, aber die IBK muss sich die Frage stellen, ob eine bestimmte Glaubensfrage das Wesentliche des Glaubens betrifft. Und ob eine Ortskirche, die abweicht, damit den gemeinsamen Glaubensgrund verlässt, oder ob die Abweichung nur eine Variante ist, die für das grosse Ganze nicht ins Gewicht fällt. Falls eine Ortskirche tatsächlich in einer Weise entscheidet, die in den Augen ihrer Schwesterkirchen das Wesentliche des Glaubens verletzt und den gemeinsamen Glaubensgrund verlässt, ist eine kirchliche Gemeinschaft nicht mehr möglich. Es ist Aufgabe der IBK, dies wenn möglich zu verhindern.
Und wie steht es nun unter diesen Gesichtspunkten mit der Ehe für alle? Die Diskussion hierzu ist noch nicht abgeschlossen, weder in der Christkatholischen Kirche der Schweiz noch in der altkatholischen Theologie noch in der Internationalen Bischofskonferenz. Deshalb kann die Antwort nur eine provisorische, von der Meinung des Autors gefärbte sein: Ist die Ehe für alle eine Frage des Glaubens? Ja, denn sie betrifft das Ehesakrament, und das Verständnis der Sakramente ist eine Frage des Glaubens. Gehört die Frage der Ehe für alle zum Wesentlichen des Glaubens? Nein, denn in der Sakramententheologie sind Taufe und Eucharistie im Zentrum, die anderen Sakramente spielen eine Nebenrolle. Muss ein Dissens in dieser Frage zu einer Kirchenspaltung führen? In Konsequenz der vorherigen Frage sage ich nein – wobei aber genau hier die Meinungen auseinandergehen.
Hat aber die Frage, auch wenn sie nicht zum Wesentlichen des Glaubens gehört, Gewicht? In unserer Zeit und unserer gesellschaftlichen Situation, wo wir mehr und mehr sensibilisiert sind für die Vielfalt der Lebensformen und für das Anliegen, Diskriminierungen zu überwinden, auf jeden Fall. Sie hat genügend Gewicht, an einer ausserordentlichen Session der Nationalsynode behandelt zu werden; sie verdient weiterhin Engagement und Sorgfalt.
Adrian Suter
Zum Autor
Adrian Suter war 2003 bis 2019 Assistent und später Oberassistent an der Theologischen Fakultät in Bern. In seiner Doktorarbeit unter dem Titel «Vernetzung und Gewichtung christlicher Lehraussagen» (erschienen 2011 im LIT-Verlag) hat er sich mit der Aussage des Zweiten Vatikanischen Konzils von der «Hierarchie der Wahrheiten» auseinandergesetzt und im Detail untersucht, welche Rolle zentrale und weniger zentrale Glaubensaussagen für die Ökumene und die Einheit der Kirche spielen.
Zom-Gesprächsrunde
Zur Diskussion und Vertiefung dieses Textes fand am 24. Februar 2021 eine Zoom-Gesprächsrunde statt.