Zwischen Verwöhnung und nötiger Strenge
«Du sollst einem Kind die Erziehung nicht vorenthalten! Wenn du es mit dem Stock schlägst, soll es nicht sterben: Du schlägst es mit dem Stock, sein Leben aber bewahrst du vor dem Abgrund.»
Sprichwörter 23,13f.
Eine Bibelstelle zum Streichen. Ich lehne körperliche Gewalt als Erziehungsmittel definitiv ab. Diese Bibelstelle muss man unbedingt übertragend deuten. Etwa so, wie es die Bibel in gerechter Sprache vorschlägt: «An einer klaren, eindeutigen Haltung wird es (das Kind) nicht zugrunde gehen. Du bereitest ihm Härte, aber vor Schlimmerem bewahrst du es.»
Mir kommen diese Bibelstellen in den Sinn, wenn ich mich frage, ob ich wieder einmal zu streng mit den Kindern war. Zum Beispiel, wenn es um die Regenhosen geht, etwas, das ich als Kind nie besass und aus heutiger Sicht auch nicht vermisste. Heute haben alle Kinder, die ich so kenne, Regenhosen. Und wenn die Wetterapp ein paar Regentropfen ankündigt, schicken die meisten Eltern ihre Kinder in Regenhosen los oder geben die Hose im «Kampfrucksack» mit. Ich finde das in vielen Fällen übertrieben. Nicht nur, wenn ich mir die (Abfall-)berge an ausgetragenen Regenhosen vorstelle, sondern auch weil ich Regen mag. Immerhin ist das himmlische Wasser unsere Lebensgrundlage, und ich fühle gerade in den warmen Jahreszeiten gerne die Regentropfen auf meinem Körper und das nasse Leibchen an der Brust kleben. Ein paar Regentropfen schaden nicht. Und dann kommt der Regenschauer und ich habe meine zarte Tochter ohne Regenhose losgeschickt. Vielleicht friert sie, vielleicht muss sie weinen, wahrscheinlich ärgert sie sich über mich, weil sie hätte ja die Regenhose tragen wollen. Gelingt meine erzieherische Absicht, sie erfahren zu lassen, dass ein vierjähriges Mädchen an einem Regenschauer nicht stirbt, und dass sich Regen auch interessant anfühlen kann?
Wie streng sollen Eltern mit ihren Kindern sein? Meine leider viel zu früh verstorbene Schwiegermutter hatte da ein klare Haltung und ein treffendes Wort: «Triebverzicht», nannte sie es, wenn Kinder etwas forderten, was in den Augen der Eltern oder Grosseltern Unsinn darstellt, das müsse man auch üben. Ich stimme ihr zu. Die Regenhose gibt’s bei mir nur, wenn es zum Regen auch noch kalt ist, Schleckzeug nur einmal die Woche, Spielzeug nur zum Geburtstag, zu Weihnachten oder einem besonderen Anlass. Wohin denn nur mit all den verführerischen Annehmlichkeiten und dem Haufen überflüssiger Kindersachen? Soll man denn den Kindern jeden Wunsch erfüllen? Soll man sie vor jeder (schwierigen) Erfahrung bewahren? Soll man ihnen nicht die Möglichkeit geben, im Kleinen Verzicht zu üben und Unannehmlichkeit zu ertragen?
Lenz Kirchhofer