Und führe uns nicht in Versuchung …

Stellungnahme von Bischof Harald Rein zur aktuellen Debatte über das Vaterunser in der Romandie.

Das erste Gebet, das ich als Kind auswendig lernte, war das Vaterunser. Erst im Schul- und Erwachsenenalter begann ich mich mit dem Inhalt näher auseinanderzusetzen. Aber gerade der heute aktuell diskutierte Satz «Und führe uns nicht in Versuchung» bereitete mir keine Mühe. Denn mir leuchtete die Erklärung meiner Lehrer/innen in der Schule, im Religionsunterricht und an der Universität ein: Es ist nicht Gott, der versucht. Als Verursacher kommt je nach Konfession und/oder eigener Überzeugung entweder nur der Teufel in Frage oder ein letztlich nicht erklärbares Prinzip, nämlich das Böse. Auch wenn mir der Mephisto im Faust von Goethe als Teufel fast sympathisch erschien, insbesondere in der Darstellung des Schauspielers Gustav Gründgens, tendierte ich immer zur zweiten Deutungsvariante. Aber letztlich wissen wir es nicht. Es gehört zur Welt, so wie sie Gott erschaffen hat, dass wir vieles nicht verstehen und erklären können. Es wird uns erst klar im Sinne von Wissen und Verstand, wenn wir nach unserem Tode bei Gott sind. Das macht das Geheimnis des Lebens mit aus.

Biblische Texte und Tradition

Das Gebet, das uns Jesus selbst zu beten gelehrt hat, findet sich in den Evangelien nach Matthäus 6,9–13 und nach Lukasevangelium 11,1–4 in zwei Versionen. Es geht um das Urvertrauen in Gott (wie in eine Mutter oder einen Vater), der es grundsätzlich gut mit uns meint. Das Wissen um seine Heiligkeit, die Hoffnung auf das Wiederkommen seines Reiches und um Bitten, wie das tägliche Brot und die Vergebung von unserer Schuld. Der Sinn der verschiedenen Sätze hat die Menschen immer beschäftigt und zu Akzentsetzungen bei Übersetzungen geführt. Und auch mit einer Rückbesinnung auf den hebräischen Urtext oder seine griechische Version lassen sich nicht alle Fragen lösen. Denn wir wissen ja letztlich nicht, wie die Menschen damals den Urtext beim Beten verstanden haben. Vor allem auch, weil ein Wort je nach sprachlichem Kontext verschiedene Bedeutungen haben kann. Es gibt keine eindeutige Übertragung in andere und moderne Sprachen. Daher halte ich mich bezüglich der aktuellen Debatte im Zweifelsfalle an den Jakobusbrief, wo es in 1,13 heisst: «Niemand, der in Versuchung gerät, sage: Ich werde von Gott versucht; denn Gott kann nicht vom Bösen versucht werden und führt auch niemanden in Versuchung.» Hinzu kommt, dass ich der Auffassung bin, dass man alte über Generationen tradierte «heilige» Texte so lassen soll wie sie sind und sie nicht grundlos ändern soll. Sie zu hinterfragen und für die jeweils gegenwärtige Zeit zu interpretieren ist Aufgabe der Predigt, des Religionsunterrichtes, der Erwachsenenbildung usw. Gottesbilder sind immer erklärungsbedürftig und sollten es auch bleiben. Allerdings gab es die jetzige neue Akzentverschiebung ähnlich schon in früheren Zeiten. Zum Beispiel hiess es 1707 bei den Jansenisten, die für die Geschichte der niederländischen Altkatholiken wichtig sind: «Et ne nous laissez point entrer en tentation.»

Hintergrund der aktuellen Debatte

«Ne nous laisse pas entrer en tentation» heisst es nun definitiv ab Ostern 2018 für alle römisch-katholischen Bistümer französischer Sprache weltweit. Und nicht mehr wie bisher: «Ne nous soumets pas à la tentation.» Dem ging ein längerer kircheninterner Prozess voraus; «entrer» soll zeigen, dass der Mensch sich in Versuchung begibt, nicht Gott ihm diese zufügt. Darüber, ob dieser Schritt der römisch-katholischen Kirche genügend mit den anderen Kirchen bzw. der Ökumene abgestimmt wurde, gehen die Sichtweisen auseinander. Die evangelisch-reformierten Kantonalkirchen in der Romandie und die evangelischen Kirchen in Frankreich haben durch ihre Synoden nachgezogen, aber mit Bauchweh und oft knappen Mehrheiten. Denn einerseits leuchtete die neue Übersetzung gemäss heutigem Sprachgefühl ein. Andererseits hätte man auch weiter mit dem bisherigen Text gut leben können. Damit wäre eigentlich die weitere Diskussion versandet, wenn nicht Papst Franziskus am 6. Dezember 2017 im Kontext eines Radiointerviews einen Gedankenanstoss gegeben hätte, der leider Öl ins Feuer goss. Denn er bekundete seine Sympathie mit der neuen Formulierung durch die Existenz des Satans, der der Verursacher sei … Durch diese Interpretation und Engführung (der Teufel als Person und Gegenspieler Gottes) bekam das Ganze wieder eine andere und problematische Dimension. Denn sowohl die neue als auch die alte Übersetzung lassen das ja offen.

Weiteres Vorgehen in der christkatholischen Kirche

In unseren ersten französischsprachigen Unterlagen für die Liturgie von 1873 und 1910 entschied sich die Christkatholische Kirche der Schweiz im Hinblick auf verschiedene Vorlagen für die Formulierung: «Et ne nous laisse pas succomber à la tentation.» 1973 wurde dies aus ökumenischen Gründen auf Antrag von Bischof L. Gauthier geändert in: «Et ne nous soumets pas à la tentation.» Die gegenwärtige Debatte kommt für uns zu einem ungünstigen Zeitpunkt. Wir müssen wegen des formalen Abschlusses unserer letzten Liturgiereform die entsprechenden liturgischen Bücher die nächsten zwei Jahre in ihrer französischsprachigen Fassung herausbringen. Die Arbeiten sind so gut wie abgeschlossen. Wie halten wir es nun beim Vaterunser? Der Synodalrat und ich haben in den französischsprachigen Kirchgemeinden unseres Bistums eine Vernehmlassung gestartet. Erst wenn diese abgeschlossen ist, macht es Sinn über das weitere Vorgehen zu entscheiden. Wir müssen uns aber dabei im Klaren sein: Auch wenn die inhaltliche Diskussion im Vordergrund stehen muss, die ökumenische Ausgangslage ist unübersehbar. Fast alle anderen Kirchen in der Romandie haben für die neue Formulierung bereits grünes Licht gegeben. Im deutschsprachigen Teil unseres Bistums sehe ich momentan keinen Handlungsbedarf, da zurzeit trotz aller Diskussionen niemand einen Antrag gestellt hat, auch den deutschen Text offiziell zu verändern. Hinzu kommt, dass er in den neuen liturgischen Büchern für die nächsten Jahrzehnte gedruckt ist und durch den Gebrauch verschiedener Bibelübersetzungen im Gottesdienst und in den Unterrichtsmitteln genügend Freiraum für andere Varianten besteht. Das ist ja auch schon heute der Fall, insbesondere bei Firmungen, wo sich die jungen Erwachsenen vorher im Unterricht mit ihrem Glauben anhand von Vaterunser und Glaubensbekenntnis auseinandersetzen.

Ich betrachte diese Stellungnahme als Information und Denkanstoss und freue mich auf Reaktionen.

Bischof Harald Rein