
Zeichen der Stärke in der Bibel: die Träne. Bild: wikimedia.commons
Frage: Warum ist in der Bibel so oft vom Weinen die Rede?
Meistens sind es die Frauen. Sie weinen schon früh. Im Buch Ruth, nach dem Tod der Männer, da weinen sie. «Da erhoben sie ihre Stimmen und weinten.» (Rut 1,9) Und dann, beim Abschied der Frauen, «erhoben sie ihre Stimmen und weinten noch mehr.» (Rut 1,14) Allein Ruth, obwohl sie als Moabiterin den Israeliten verhasst ist, bleibt bei der Israelitin Naomi auch in der bittersten Stunde ihres Lebens (Rut 1,20).
Später dann wird einer unverheirateten Minderjährigen eine ganz sonderbare Geburt angekündigt, die sie blossstellt und die sie nicht erklären kann. Ihre Gefühle werden schamhaft verschwiegen, doch wir können sicher sein, dass Maria, nachdem der Engel gegangen ist, weint. Und als man ihr sagt, ein Schwert werde ihre Seele durchdringen? (Lk 2,35) Ganz bestimmt wird sie geweint haben! Weil sie schliesslich die Einzige ist, von der gesagt wird, alle Worte, die sie höre, habe sie in ihrem Herzen bewegt (Lk 2,19).
Wo weinen Frauen noch? Neben dem Kreuz, da weinen sie: Stabat Mater dolorosa. Und sogar am Ostermorgen. «Maria aber stand vor dem Grabe und weinte.» (Joh 20,11)
Und was tun währenddessen die Anderen, die Abgehärteten, Bewaffneten, Starken? Jesus betet zum letzten Mal, da übermannt sie der Schlaf. «Könnt ihr nicht eine Stunde mit mir wachen?» (Mt 26,40) Einer verrät ihn gegen Geld. Einer zückt das Schwert. Soldaten sind es, die ihn gefangen nehmen, Regierende – und sogar Gelehrte – sind es, die seinen Tod beschliessen.
Und seine Vertrautesten, die drei Jahre lang mit ihm Tag und Nacht verbracht hatten? «Da verliessen ihn alle Jünger und flohen.» (Mt 26,56)
Sofort wenden wir ein: Aber Petrus, der Fels, der wird doch standhalten, der wird bei seinem geliebten Herrn bleiben – auch wenn er mit ihm sterben müsste! (Mt 26,35) Und Petrus zeigt, was er kann: «Er leugnete und schwur dazu: Ich kenne den Menschen nicht.» (Mt 26,72)
So beginnt die Nacht aller Nächte. «In dieser Nacht werdet ihr euch alle ärgern an mir.» (Mt 26,31) Dies ist die Nacht der nackten Angst, die Stunde der tiefsten Hoffnungslosigkeit. Wer würde es wagen, nach einer solchen Nacht sich ohne Begleitung und vor allen anderen ausserhalb der sicheren Mauern der Stadt zu bewegen?
Es ist die «Schwierige», deren Leben schon immer kompliziert war (Lk 8,2), die schon immer geweint hat (Lk 7,38) … «kommt Maria Magdalena, früh, da es noch finster war, zum Grab.» (Joh 20,1).
Da ist sie. Wo Tod und Hoffnungslosigkeit herrschen, weicht sie nicht aus. Was Ruth begonnen hatte, vollendet Maria Magdalena, und so schliesst sich der Kreis derer, die weinen, weil sie der Angst nicht aus dem Wege gehen.
Die ein Herz haben (Lk 2,19), die verletzlich sind, die weinen – sie ertragen mehr als die, die Geld haben, mehr als die, die mit dem Schwert umgehen, mehr sogar als der Fels, auf dem die Kirche steht (Mt 16,18).
Die Verletzlichen verlassen den Gekreuzigten zuletzt. Und die Verwundeten sehen das Wunder zuerst. «Selig, die da weinen, denn sie werden den Auferstandenen sehen.»
Matthias Kissel
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