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Lebenszeichen – die Knospe auf dem Möhliner Friedhof

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Auf dem Friedhof in Möhlin steht gleich neben unserer Kirche eine Bronzeskulptur in Form einer Knospe. Eigentlich war sie gar nicht für den Friedhof gedacht, sondern gehörte als Leihgabe neben anderen Exponaten 1998 zur Ausstellung anlässlich der 125-Jahr-Feier der christkatholischen Kirchgemeinde Möhlin. Gestaltet wurde sie von der Rheinfelder Künstlerin Miquette Thilo-Frey.

Irgendwann kam die Frage auf, wann und wie die Skulptur wieder zurückgegeben werden sollte, sie war ja nur eine Leihgabe. Ich dachte mir: Warum sollten wir sie denn überhaupt zurückgeben? Vor dem Kirchgemeindehaus sollte sie nicht stehenbleiben, das war klar, aber ein so schönes und sprechendes Kunstobjekt könnte doch auch für etwas stehen, was gut zu unserer christlichen Verkündigung passt: Auferstehung, Leben nach dem Tod, Versöhnung – das waren Stichworte, die mir einfielen.

«Das ist doch wie ein Lebenszeichen», dachte ich, und sprach mit unserer Kirchenpflege darüber, ob wir sie nicht auf dem Friedhof als ein ebensolches «Lebenszeichen» bei der Kirche aufstellen könnten, z. B. als Gedenkort für frühverstorbene Kinder.

Aus der Idee wurde ein konkreter Auftrag. Die Mitglieder unserer Kirchenpflege und ich als Pfarrer hörten uns um, wie andere im Dorf auf die Idee reagieren. Auch in der Ökumene haben wir darüber gesprochen und bekamen sofort Unterstützung für die Idee. Auch die Frauenvereine im Dorf, einschliesslich der gemeinnützige Frauenverein, der überkonfessionell organisiert ist, fanden die Idee grossartig und sagten spontan ihre Unterstützung zu.

Irgendwann war klar: Die Knospe soll auf dem Friedhof neben unserer Kirche als Gedenkort für frühverstorbene Kinder aufgestellt werden. Der Platz dort hat den Vorteil, dass er öffentlich für alle zugänglich ist, aber diskret genug liegt, um bei einem Besuch nicht gleich vom ganzen Friedhof aus gesehen zu werden. Das war ein deutlicher und mehrfach geäusserter Wunsch, vor allem von Frauen. Ein Gedenkort, der von den Menschen auch als solcher angenommen und genutzt werden soll, braucht neben der niederschwelligen Zugänglichkeit eben auch die nötige Diskretion, um mit der eigenen Trauer dorthin zu gehen. Denn auch heute noch ist der Umgang mit dem Thema Tod im Kontext frühverstorbener Kinder aus Sicht der Eltern, vor allem der Mütter, nicht einfach und wird je nach Situation sogar als Tabu erlebt.

Oftmals eine schwierige Trauersituation

Das Thema haben wir auch unter uns Geistlichen in der Ökumene in Möhlin diskutiert. In der Begleitung von Menschen in verschiedenen Lebenssituationen begegnen wir Seelsorgerinnen und Seelsorger immer wieder trauernden Eltern, die ein Kind früh verloren haben. Manche konnten nach einer Totgeburt Abschied nehmen, andere haben ihr Kind noch während der Schwangerschaft verloren, sodass sie es nie sehen und in die Arme schliessen konnten. Viele Frauen und Männer leiden oft sehr darunter, wenn es keine Grabstätte gibt, an der sie ihres Kindes gedenken und trauern können. Die Trauer um (früh-)verstorbene Kinder ist ohnehin schon schwer zu bewältigen, aber wenn dann auch keine Beerdigung möglich war, ist das ein besonderer Schmerz für die Eltern. Die ersten Schwangerschaftswochen bringen ja noch keinen rechtlichen Anspruch auf Bestattung. Die Rechtslage bei Totgeburt und Meldepflicht wird ja grundsätzlich in der Zivilstandsverordnung des Bundes (ZStV) geregelt. Demnach ist ein Kind meldepflichtig erst ab der 23. Schwangerschaftswoche oder – bei einer Totgeburt – wenn es mindestens 500g wog. Mit den Bedingungen für die Meldepflicht verbindet sich in der Regel auch der Anspruch auf Bestattung. Das bringt immer wieder Belastungen für trauernde Familien mit sich. Und wenn eine Bestattung aufgrund der Umstände tatsächlich nicht möglich ist, fehlt natürlich auch das Grab als Ort für Abschied und Trauer über den Moment des eigentlichen Verlustes hinaus. Erschwerend kommt manchmal auch die Unsicherheit oder Ablehnung der Menschen im Umfeld der trauernden Eltern hinzu: „Das Kind war ja noch gar nicht geboren. Wofür braucht es dann ein Grab?“. In solchen Situationen sind es oft vor allem die Frauen, die unter einem grossen Rechtfertigungsdruck stehen, wenn sie eine Bestattung für ihr Kind wünschen.

Auch Väter und Geschwisterkinder erleben Trauer und Verlust und sehen sich dazu noch konfrontiert mit der Trauer ihrer Partnerin bzw. Mutter. So wollte ein Vierjähriger einmal wissen, wo er denn das Schutzengelchen aufstellen dürfe, das er für sein verstorbenes Geschwisterchen eigentlich als Willkommens-Geschenk bereitstehen hatte; seiner Mami könne er es ja nicht geben, weil sie sonst bestimmt noch mehr weinen müsse.

Öffentlich und doch diskret ist der Platz der Knospe neben der Kirche.

Genau das waren Erfahrungen und Hintergründe für die Idee, die Knospe auf dem Friedhof aufzustellen und damit einen Erinnerungs- und Trauerort für frühverstorbene Kinder zu schaffen. Ganz bewusst haben wir in unseren Publikationen übrigens darauf verzichtet, zwischen den Gründen für die Trauer zu unterscheiden. Es soll ein Ort für alle Kinder sein, egal ob es sich um Tod nach einer Frühgeburt, Totgeburt, Tod durch Krankheit, Unfall oder Abtreibung handelt. Die Knospe auf dem Friedhof soll allen frühverstorbenen Kindern gewidmet und ein Ort sein, an dem Eltern und Angehörige ihrer gedenken und erinnernd verweilen können.

Der Ort ist auch keine Grabstätte, sondern ausdrücklich ein Ort des Gedenkens, zugänglich für alle Menschen, unabhängig von Konfession oder Weltanschauung.

Die Knospe als Lebenszeichen

Verschiedene Rituale und Symbole spielen in der Bewältigung von Trauer eine Rolle. Das kennen wir ja auch aus unserem eigenen Bestattungsritual. Manchen Eltern hilft ein „Erinnerungsplatz“ daheim, ein Bild oder eine Kerze, die an bestimmten Tagen angezündet wird, ein Brief an das verstorbene Kind, ein Gebet allein oder mit den anderen Familienmitgliedern. Da gibt es keine Grenzen. Die Knospe als Gedenkort ist ebenfalls ein Symbol, das in Trauer und Erinnerung helfen soll. Sie erinnert an das Leben, das schon da, aber noch nicht entfaltet ist. Trotz aller Trauer steht sie darum für die Hoffnung und ist im Sinne der vielen Gespräche und Überlegungen, die in Möhlin während der Planungsphase stattgefunden haben, ein „Lebenszeichen“.

Im Jahr 2015 konnte sie Dank der Unterstützung der drei Kirchgemeinden, der Möhliner Frauenvereine und vieler Privatpersonen von der Nachlassverwalterin und Tochter der Künstlerin käuflich erworben und an ihrem heutigen Platz aufgestellt werden. An Allerheiligen wurde sie schliesslich in einer ökumenischen Feier auf dem Friedhof unter grosser Beteiligung der Dorfbewohner/innen als Gedenkort für früh verstorbene Kinder eingeweiht.

Seither findet man immer wieder Blumen, Kuscheltiere, Engelfiguren oder Kerzen, die dort abgestellt wurden. Jedes Jahr am Allerheiligentag, wenn wir in der Kirche der Verstorbenen des vergangenen Jahres gedenken und deren Namen im Gottesdienst nennen, wird auch eine Kerze für die Kinder entzündet und dort aufgestellt.

Seelsorgliches Angebot

Mit der Knospe verbindet sich auch ein ökumenisches Angebot der Seelsorgenden in Möhlin. Im Flyer zur Knospe finden sich die Kontaktdaten der Seelsorgenden und der drei Pfarrämter, verbunden mit der Einladung: «Aus der freudigen Erwartung Ihres Kindes ist Trauer geworden. Sie haben Ihr Kind in der Schwangerschaft oder nach der Geburt verloren.

Vielleicht haben Sie auch erfahren müssen, dass eine Fortführung der Schwangerschaft wegen schwieriger Umstände nicht möglich war. In dieser belastenden Situation möchten wir Sie darin unterstützen, Ihres Kindes zu gedenken, Ihre eigene Situation zu reflektieren und Abschied zu nehmen.» Angesprochen werden Eltern, Geschwister, weitere Angehörige. Ob es ein Gespräch oder eine längere Trauerbegleitung wird, hängt dann von der Situation und den Möglichkeiten der einzelnen Seelsorgenden ab.

Christian Edringer

Die Künstlerin

Miquette Thilo-Frey, geb. 1909 in Moudon (VD). Ab 1927 Kunstgewerbeschule Basel, 1932-34 Académie Ranson Paris, 1935-38 École des Beaux-Arts Genf. Ab 1942 wirkte sie als Bildhauerin mit ihrem Mann, dem Bildhauer Otto Frey, in Rheinfelden, wo sie ein Atelier unterhielten. 1958 erhielt sie eine Auszeichnung und den Förderpreis der Stadt Zürich. 2002 starb sie 92-jährig.

Weitere Informationen

Hilfreiche Infos zum Thema finden Sie z. B. unter www.kindsverlust.ch oder www.verein-regenbogen.ch. Auch unter Stichworten wie «Herzenskinder» oder «Sternenkinder» findet man im Internet eine Reihe gut aufbereiteter Infos, sowie Angebote für Betroffene.

Betrachtung

«Eine Knospe
wächst
aus der Erde
zum Himmel
aus dem Dunkel
ins Licht

zart noch
am Anfang

Wie eine
Umarmung des Lebens
umfangen die Blätter
den Lebensanfang
der im Innern reift

Lebenszeichen
gegen den Tod»

Schild am Sockel der Knospe

Text von C. Edringer