Zukunft der Kirche – Kirche der Zukunft
09. November 2023
Andreas Krebs (Prof. an der altkatholischen Fakultät der Univ. Bonn)
Referat gehalten am 9. Nov. 2023 anlässlich des ökumenischen Podiums im Rahmen der christkatholischen 150 Jahr Jubiläen in der Kirchgemeinde Möhlin
Das Nachdenken über Zukunft braucht eine Gegenwartsdiagnose – und mit der möchte ich meinen
Vortrag beginnen: Was heißt es eigentlich, hier und heute für den christlichen Glauben einzustehen – in säkularen Gesellschaften, die sich zugleich mit neuen Wertekonflikten und zunehmenden Krisen auseinandersetzen müssen? Auf dieser Grundlage will ich im zweiten Teil meines Vortrags Ideen zu den heutigen Kirchen und ihren möglichen Zukünften entwickeln – jenseits konfessioneller Unterschiede. Im dritten Teil schließlich will ich Gedanken zu einer Spiritualität vorstellen, die uns persönlich und unsere Kirchen in bevorstehenden Wandlungsprozessen begleiten könnte.
1. Säkularer Glaube
Ich beginne mit der Gegenwartsdiagnose. Wir sprechen gerne davon, dass Kirchen heute in „säkularen“ Gesellschaften zurechtkommen müssen. Das bedeutet zunächst: Wir leben in Gesellschaften, in denen religiöse Institutionen, Normen und Handlungsmuster grundlegend relativiert sind. Sie gelten nicht mehr umfassend und unbedingt, sondern in Grenzen und unter Bedingungen. So haben Kirchen als Institutionen schon lange nicht mehr das gesellschaftliche Standing, das vor einigen Jahrzehnten noch selbstverständlich schien. Das tritt auch in der Politik zutage: In Deutschland wie der deutschsprachigen Schweiz ist über lange Zeiträume ein komplexes, aber auch sehr enges Staat-Kirche-Verhältnis entstanden, das jedoch merklich zu bröckeln beginnt – etwa wenn, hier in der Schweiz, das Modell der „Landeskirchen“ nunmehr in Frage gestellt wird. Auch religiöse Normen sind in unseren Gesellschaften klar relativiert – man kann religiöse Normen zwar immer noch mit Absolutheitsanspruch vertreten, wenn man sich das traut, aber in gesellschaftlicher Breite ernstgenommen wird man damit schon lange nicht mehr. Und auch religiöse Handlungsmuster spielen kaum noch eine öffentliche Rolle, sie haben sich zurückgezogen, in den Sonderraum von Kirche und ins private Umfeld.
Wenn Christenmenschen über all das reflektieren, verfallen manche in ein Denken, in dem nur die Farben Weiß und Schwarz vorkommen: Hier die gute, helle, von Schönheit erfüllte kirchliche Raum, dort die verwirrende, dunkle und hässliche säkulare Welt – die doch endlich nur wieder verstehen muss, was für ein wunderbares Angebot die Kirchen ihr zu machen haben. Solche ein Schwarz Weiß-Denken aber, davon bin ich überzeugt, führt zu nichts. Warum? Zum einen ist Säkularität ein facettenreiches Phänomen, das in zahllosen Farben schillert. Es gibt vielfältige Säkularisierungsdynamiken, und manche sind für eine moderne, aufgeklärte Spiritualität und Kirchlichkeit keineswegs schädlich. Eine weitere Einsicht scheint mir wichtig: Wir alle sind in Säkularisierungsdynamiken verwickelt, niemand von uns steht einfach außerhalb der säkularisierten Gesellschaft, auch die Frömmsten nicht. Es ist verfehlt, Glaube und Kirche gegen die säkulare Gesellschaft auszuspielen. Ich möchte beide in wechselseitig produktivem Miteinander denken. In solchem Miteinander müssen und können unsere Kirchen „Brückenkirchen“ sein, die scheinbar weit Auseinanderliegendes zusammenbringen.
Christen sind also heute primär gefordert mit der Vielfalt von Säkularisierungsdynamiken umzugehen. Mit dem Kulturphilosophen Charles Taylor kann man drei verschiedene Säkularisierungsdynamiken unterscheiden:
Erstens sind unsere Gesellschaften sozial differenziert. Das heißt, es gibt nicht mehr ein System – etwa das System Religion –, von dem aus das gesellschaftliche Leben insgesamt bestimmt wird. Es gibt viele Systeme – Ökonomie, Politik, Kultur – die uns je verschiedene Rollen und damit je verschiedene Rationalitäts- und Handlungsmuster zuweisen. Eine Person kann zum Beispiel Christin und Kirchgängerin sein; sie ist aber auch Büroangestellte, Anhängerin einer politischen Partei und Museumsbesucherin.
Das heißt: In differenzierten Gesellschaften nehmen wir alle unterschiedliche Rollen ein – und die religiöse Rolle ist nur eine von vielen! Wir wissen genau, wo religiöse Vollzüge ihren Ort haben und wo nicht, und wir verhalten uns entsprechend. In differenzierten Gesellschaften ist die soziale und individuelle Reichweite von Religion deshalb objektiv begrenzt – und zwar auch für Menschen, die subjektiv religiös sind, und sogar dann, wenn sich die Mitglieder der Gesellschaft mehrheitlich zur einer Religion bekennen.
Das wiederum heißt: Säkularisierung im Sinne sozialer Differenzierung muss tatsächlich nicht beinhalten, dass Religion aus der Gesellschaft verschwindet. Im Gegenteil, Religion kann in differenzierten Gesellschaften im Sinne von rein individualisiertem Glauben sehr lebendig sein.
Allerdings haben sich institutionalisierte Formen der Glaubens während der letzten Jahrzehnten stark verändert; öffentliche religiöse Praktiken, allen voran der Gottesdienstbesuch, werden ungebräuchlicher, und die Zahl derer, die verfassten Religionsgemeinschaften angehören, geht zurück. Es ist diese zweite Dynamik von Säkularisierung – das zunehmende Verschwinden von Religion –, worüber in vielen Säkularisierungsdebatten vor allem gesprochen wird.
Neben sozialer Differenzierung und dem Verschwinden von Religion gibt es aber noch eine dritte Dynamik von Säkularisierung, die ebenfalls unabhängig von den ersten beiden auftritt. In modernen Gesellschaften kommt es zu einer Optionalisierung von Religion. Hiermit ist ein Wandel angesprochen, der von einer Gesellschaft wegführt, in der ein religiöser Glaube unangefochten ist, und sie in eine Gesellschaft übergehen lässt, in der sich zahllose religiöse oder sonstige weltanschauliche Möglichkeiten bieten. Der Religionssoziologe Peter Berger hat von einem „Zwang zur Häresie“ gesprochen: In Sachen Religion gebe es keine andere Wahl mehr als die Wahl. Die Vereinigten Staaten von Amerika sind ein Beispiel für eine Gesellschaft, in der Religion weiterhin überaus präsent ist. Aber eine Säkularisierung im Sinne von Optionalisierung hat auch dort längst stattgefunden; viele Menschen in den USA finden es normal, bei Umzügen auch die Kirchenzugehörigkeit zu wechseln und sich immer neu eine andere Konfession herauszusuchen.
Ich begrüße also Säkularisierung im Sinne der Differenzierung von Gesellschaft, und ich begrüße auch Säkularisierung in Sinne einer Optionalisierung von Religion – und das kann ich als Christ umso besser tun, als Differenzierung und Optionalisierung eben nicht mit dem Verschwinden von Religion zusammengehen muss! Es ist einzig diese Gestalt der Säkularisierung, der wir natürlich etwas entgegenzusetzen haben. Wenn Kirche und Spiritualität nicht verschwinden sollen, sie aber auch nicht einfach als Gegenwelt zur säkularen Gesellschaft aufzubauen sind, dann geht es darum, das Spannungsverhältnis zwischen beiden produktiv zu machen. Die Herausforderung ist: Wie kommen wir zu einer säkularen Kirchlichkeit und zu einer säkularen Frömmigkeit – zu einer radikalen Teilhabe an der säkularen Welt, in der die säkulare Welt zugleich überschritten wird auf das hin, was über alle Welt hinausgeht – auf das hin, was „mehr als alles“ ist?
2. Säkulare Kirchlichkeit
Lassen Sie mich zunächst über säkulare Kirchlichkeit nachdenken – und erlauben Sie mir dabei, zunächst die altkatholischen Kirchen, die christkatholische Kirche in den Mittelpunkt zu stellen. Der Altkatholizismus Deutschlands, Österreichs und der Schweiz ist aus dem innerkatholischen Protest gegen die autoritäre Gestalt des Papsttums hervorgegangen, die vom Ersten Vatikanischen Konzil zum verbindlichen Glaubensgut erklärt wurde. Dagegen formierte sich eine Protestbewegung, die auch von prominenten Theologen wie Ignaz von Döllinger (1799–1890), in der Breite jedoch von kritisch-liberalen katholischen Laien aller gesellschaftlicher Schichten getragen wurde. Bald es kam es zur Herausbildung einer eigenständigen Kirche: In der Schweiz kam es basierend auf der deutschen Programmatik 1875 zur Konstituierung der christkatholischen Nationalsynode und 1876 zu Wahl und Weihe von Bischof Eduard Herzog (1841–1924). 1889 schlossen sich die altkatholischen Kirchen der Schweiz, Österreichs und Deutschlands mit der Kirche von Utrecht zur Utrechter Union zusammen. Später kamen die altkatholischen Kirchen Österreichs, Tschechiens und Polens hinzu.
Es gibt einen deutlich spürbaren Trend zur Beitrittskirche.
Lassen wir zunächst diesen kurzen Überblick zu Geschichte und Gegenwart des Altkatholizismus noch einmal an uns vorüberziehen. Was sehen wir da? – Deutlich scheint mir, dass der Altkatholizismus selbst ohne Säkularisierung gar nicht denkbar wäre. Die Entstehung und rasche Etablierung von Minderheitenkirchen nach 1870 setze Gesellschaften voraus, in denen man überhaupt die Freiheit besaß, sich zu abweichenden religiösen Meinungen zu bekennen. Einige Jahrzehnte früher wäre das noch schwierig gewesen. Ausführlich griffen die altkatholischen Wortführer auf Medien und Vergesellschaftungsformen einer wachsenden demokratischen Öffentlichkeit zurück. Bei alldem setzten sie darauf, dass ein kirchenunabhängiger Rechtsstaat ihr Anliegen schützen würde. Allein in differenzierten Gesellschaften konnten also die altkatholischen Kirchen nach 1870 überhaupt entstehen. Und nur in Gesellschaften mit Religionsfreiheit – mit einer Optionalisierung der Religion – konnte der altkatholische Protest und die altkatholische Selbständigkeit Legitimität beanspruchen. Der Altkatholizismus kann sich also schon deshalb nicht radikal gegen die säkulare Gesellschaft definieren, weil er selbst ein Produkt der säkularen Gesellschaft ist. Altkatholik:innen der ersten Stunde war dies auch sehr wohl bewusst. Sie bekannten sich ausdrücklich zu modernen Errungenschaften. Dabei knüpften sie nicht zuletzt an Traditionen des Aufklärungskatholizimus an, die besonders hier im Fricktal noch lange lebendig geblieben sind.
Was altkatholische Gründer:innen vehement bejahten, war übrigens auch die moderne theologische Wissenschaft – die ebenfalls insofern säkular ist, als sie nicht-theologische Methoden und Maßstäbe hat, die auch für andere Kulturwissenschaften gelten. Ignaz von Döllinger, die große Leitfigur der altkatholischen Gründungszeit, hoffte sogar, dass gerade Erkenntnisse moderner historisch-theologischer Wissenschaft zu der entscheidenden Grundlage ökumenischer Verständigung werden könnten – eine Hoffnung, die inzwischen eine prägende Rolle in der gesamten ökumenischen Bewegung spielt. Dadurch wurde die altkatholische Kirche zu einer Art ie fand Döllinger übrigens auch, gegen einen traurigen Trend seiner Zeit, zu einer echten Wertschätzung des Judentums. So kann die „Brücke“ zwischen Kirchlichkeit und Säkularität zugleich also zur „Brücke“ zwischen den Kirchen und den Religionen werden. Ein weiterer Sinn, in dem alle unsere Kirchen zu „Brückenkirchen“ berufen sind!
Vielleicht sind die altkatholischen Kirchen seit 1870 Experimentierräume solch einer gläubig-säkularen Brücken-Kirchlichkeit. Dazu passen auch Entwicklungen der jüngeren Zeit – die Frauenordination, die Anerkennung vielfältiger Geschlechter und geschlechtlicher Orientierungen. Dazu passt aber auch die Sozialgestalt vieler altkatholischer Gemeinden. Ich sprach schon davon, dass diese Sozialgestalt pluraler wird, wir finden „gebürtige“ Altkatholik:innen, Hinzugekommene und Nahestehende – und auch Vorüberreisende, die für eine Zeit in den Gemeinden vor Anker gehen, um irgendwann wieder ihre Fahrt fortzusetzen. Diese Sozialgestalt korrespondiert mit dem, was die französische Religionssoziologin Danièle Hervieu-Léger als typisch „postmoderne“ Religiosität beschrieben hat: Da gibt es einerseits jene Menschen, die sie „Pilger:innen“ nennt, Menschen, die auf einer oftmals lebenslangen Reise sind, von einem religiösen Event zum nächsten, von einer Kirche zur anderen, vielleicht sogar von einer Religion zu einer anderen. Neben diesen Pilger:innen gibt es jene Menschen, die Hervieu-Léger als „Konvertit:innen“ bezeichnet: Sie beenden diese Reise früher oder später und „konvertieren“ zu einer Gemeinschaft, um bei ihr zu bleiben. Und neben „Pilger:innen“ und „Konvertit:innen“ gibt es selbstverständlich weiterhin Alteingesessene, die ein wichtiger, stabilisierender Faktor bleiben. Die altkatholische und christkatholische Gemeindewirklichkeit bildet diese Situation bereits sehr deutlich ab.
Eine naheliegende Prognose ist, dass auch Gemeinden bisheriger Großkirchen sich in diese Richtung fortentwickeln werden: Sie werden zahlenmäßig kleiner werden – und sie werden zugleich bunter zusammengesetzt sein, aus Ansässigen, Hinzugekommenen, Nahestehenden und Vorüberreisenden. Was spricht dagegen, diese Vielfalt auch organisatorisch umzusetzen? Warum gründet zum Beispiel nicht jede Gemeinde einen Freundschaftsverein? In ihm und um ihn herum könnten Nahestehende und Vorüberreisende sich sammeln, ohne dass ihnen eine Kirchenmitgliedschaft und damit Verbindlichkeiten aufgenötigt werden, die sie offenbar nicht wünschen. Gäbe es solche Freundschaftsvereine überall, hätte das einen weiteren Vorteil: Bei ihnen könnte die allfällige Neuaufstellung der Gemeinden ansetzen, sollte der Landeskirchenstatus tatsächlich einmal verloren gehen. So würden unsre Kirchen hier und heute schon in einem dritten Sinn zu „Brückenkirchen“ – zu „Brückenkirchen“ in eine ungewisse Zukunft, die uns zweifellos herausfordert, die aber auch noch lange nicht verloren ist.
Ein schönes Beispiel solch einer Brückenkirche erlebe ich in Trier, meiner deutschen Heimatstadt. Dort gibt es eine römisch-katholische Stadtteilkirche, die kein Gemeindeleben mehr hatte und kurz vor der Schließung stand. Ein mit mir befreundeter Pfarrer sollte die letzten Jahre des Niedergangs verwalten. Und er sagte sich: Wenn ich schon den Niedergang verwalten soll, will ich wenigstens Spaß dabeihaben. Also zog er durch die Nachbarschaft und fragte, ob jemand seine Kirche für irgendwas gebrauch könne. Sein Ansatz war ein zutiefst diakonischer: Er ging in der Nachbarschaft herum mit der Frage, wofür sie seine Kirche in Dienst nehmen wollen. Die Inhaberin der Cocktailbar von gegenüber sagte: Ich will in der Kirche Cocktailproben machen. Also gab es Cocktailproben in der Kirche. In der Schule auf andern Straßenseite hieß es: Wir brauchen einen Raum, um Kunst zu präsentieren, die im Unterricht entsteht. Also entstand in der Kirche ein Kunstraum. Studierende sagten: Wir brauchen Platz für einen Nachbarschaftsgarten. Also wurden auf der Grünfläche um die Kirche Hochbeete angelegt. Die wenigen Altkatholik:innen in Trier suchte nach einem Gottesdienstraum – seitdem sind wir dort zu Gast. Außerdem entstand ein Mittagstisch, ein queeres Nachtgebet, Hilfe für Geflüchtete aus Syrien; es gibt Gehörlosenseelsorge und eine Gruppe, die neue Formen von Gottesdiensten ausprobiert. Diese Stadtteilkirche ist heute alles andere als tot. Sie ist überaus lebendig. Und das alles praktisch ohne Geld und ohne Fördermittel: Es gibt bloß einen Verein, gegründet für Freund:innen der Gemeinde; der Mindest-Monatsbeitrag liegt bei fünf Euro. Für mich ein ermutigendes und inspirierendes Beispiel einer Brückenkirche – eine verbindende Brücke im Dienste auch der nichtkirchlichen Nachbarschaft, für die Ökumene und auf Zukunft hin. Vielleicht entsteht an Orten wie diesen tatsächlich ein Christentum, das wohl noch an konfessionelle Strukturen und Traditionen gebunden bleibt – und sich doch ganz selbstverständlich schon in post-konfessionelle Räume hinausbewegt. Und vielleicht werden gerade an Kraft-Orten wie diesen Netzwerke der Resilienz geknüpft, die auch in kommenden sozialen und ökologischen Krisen Halt bieten können.
3. Säkulare Spiritualität
Zum Schluss die Frage: Auf welcher Spiritualität könnte solch eine diakonische Brücken-Kirchlichkeit gegründet werden? Der christkatholische Theologe Kurt Stalder – Ältere hier mögen sich noch an ihn erinnern – Kurt Stalder war dafür bekannt, bei jedem Gespräch, bei jeder Diskussion die Frage in den Raum zu werfen: Wo kommt hier Gott ins Spiel? Die Frage ergibt natürlich nur dann einen Sinn, wenn Gott schon immer und überall im Spiel ist! Kurt Stalder rechnete damit, dass wir Gott jederzeit, an jedem Ort begegnen, in der Kirche und der Liturgie, natürlich, aber auch und gerade in der sogenannten „Welt“ – in zwischenmenschlicher Verbundenheit, im Alltag, in den Höhen und Tiefen des Lebens. Auf eindrückliche Weise ist hat der evangelische Theologe Dietrich Bonhoeffer diese Haltung ins Wort gebracht. Von der nationalsozialistischen Regierung inhaftiert, schrieb Bonhoeffer Briefe, durch die sich immer wieder der Gedanke von der „Polyphonie“, der „Vielstimmigkeit“ des Lebens zieht. „Ich beobachte immer wieder“, schreibt Bonhoeffer im Mai 1944, „dass es so wenige Menschen gibt, die viele Dinge gleichzeitig in sich beherbergen können; wenn Flieger kommen, sind sie nur Angst; wenn es was Gutes zu essen gibt, sind sie nur Gier; wenn ihnen ein Wunsch fehlschlägt, sind sie nur verzweifelt. Sie gehen an der Fülle des Lebens und an der Ganzheit der eigenen Existenz vorbei. Demgegenüber stellt uns das Christentum in viele verschiedene Dimensionen des Lebens zu gleicher Zeit; wir beherbergen gewissermaßen Gott und die ganze Welt in uns. Wir weinen mit den Weinenden und freuen uns zugleich mit den Fröhlichen; wir bangen um unser Leben, aber wir müssen doch zugleich Gedanken denken, die uns viel wichtiger sind, als unser Leben. Das Leben wird nicht in eine einzige Dimension zurückgedrängt, sondern es bleibt mehrdimensional, vielstimmig, polyphon.“
Für mich ist das eine der tiefsten Aussagen über christliche Spiritualität, die ich kenne. Der christliche Gott ist kein Gott, der „bei sich“ bleibt, sondern eine Gottheit, die sich in die Welt hineinstürzt, sich der Welt aussetzt, sich Glück und Leid der Welt zueigen macht. Christus hat sich „entäußert“, wie es im urchristlichen Philipper-Hymnus heißt (Phil 2,5–11), entäußert bis zum Tod – um so den Tod für immer zu besiegen. Und so ist auch christliche Spiritualität kein Bei-sich-Sein, sondern rückhaltlose Gegenwärtigkeit; sie will Resonanz mit der ganzen Vielstimmigkeit des Lebens. Wenn das richtig ist, dann gibt es Christsein nur in radikaler Offenheit. In diesem Geist hat auch das Zweite Vatikanische Konzil einen beeindruckenden, ökumenisch tragfähigen Satz formuliert: „Freude und
Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art, sind auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jüngerinnen und Jünger Christi. Und es gibt nichts wahrhaft Menschliches, das nicht in ihren Herzen seinen Widerhall fände.“
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit
Andreas Krebs