Klassentreffen

Wir hatten Klassentreffen. Wir, das sind Knaben, mittlerweile im Alter von 65+. Mädchen gab es damals nicht in unserem Schulhaus, die gingen zur Mädchenschule, weitab von unserer, so dass wir kaum in Konflikte jeglicher Art geraten konnten. Während wir Jünglinge in der Handarbeit mit Säge und Hammer werkelten und uns in die Finger schnitten, häkelten die Mädchen Topflappen, kochten und stachen sich an Übungsflicken die Finger blutig. Im katholischen Religionsunterricht gab es Ohrfeigen wenn man die Schöpfungsgeschichte hinterfragte, bei den Protestanten Kopfnüsse wenn man nicht wusste, wer Zwingli war. Der Klassenlehrer teilte «Tatzen» mit dem Lineal aus – waren die Verfehlungen gröberer Art, kam das Meerrohr zum Einsatz. Züchtigungen aller Art waren also an der Tagesordnung. Wir haben jetzt darüber geschmunzelt oder gelacht, die Schmerzen von damals sind längst vergessen, genauso wie der Groll gegen die Peiniger. Die  Unterdrückung in Elternhaus, Schule und Kirche, später in Berufslehre oder an der Uni gipfelte in der Jugendrevolte im Sommer 1968, also vor genau 50 Jahren. Es war ein Befreiungsschlag, der vieles veränderte und bis heute nachwirkt, im positiven wie im negativen Sinn. Es gab zwar Jesus-People oder man wandte sich dem Buddhismus zu, Spiritualität war keineswegs verpönt – im Gegenteil, aber mit der Institution Kirche wollte man nichts mehr zu tun haben. … Ob wir dereinst ein Klassentreffen im Jenseits veranstalten, wissen wir nicht – darauf hoffen können wir aber.

Alois Schmelzer