Theologie, Versöhnung und Maria

Der anglikanische Theologe Rowan Williams sagte kürzlich, es sei die Aufgabe der Theologie, das Leben der Kirche auf eine intelligente Art und Weise immer wieder an das Evangelium rückzubinden. Diese Aussage ist ebenso einfach wie anspruchsvoll und vielseitig. Diese Rückbindung kann ethisch sein (etwa als ein Leben geprägt von der Nächstenliebe), sie kann aber auch spirituell (als ein Leben des Gebets) oder bezeugend sein (indem man sich stark macht für Recht und Gerechtigkeit in Kirche und Welt). Im besten Fall spielen diese drei Dimensionen des Dienens, des Feierns und des Bezeugens in der Gemeinschaft der Kirche immer eine Rolle. Was heisst das nun, insbesondere für die Systematische Theologie? Welche Rolle kann sie bei der Umsetzung dieses Anliegens spielen? Und wie spielt sie in der Theologie an der Berner Fakultät eine Rolle? 

In der Systematischen Theologie, wie ich sie vertrete, steht die Frage nach Gemeinschaft und Verbindung im Zentrum. Das heisst: Verbindung zwischen Gläubigen und Kirche im Heute, Verbindung zwischen Kirche und Gesellschaft und Verbindung mit und durch die Quellen des Glaubens, das heisst, mit Bibel und Tradition. Das ist anspruchsvoll – doch mit weniger kann man sich nicht zufriedengeben. Eine Kirche soll ja verbinden, weil sie ein Zeichen der versöhnenden Liebe Gottes ist. Weil dies so ist, muss die Theologie sich auch der Herausforderung stellen, über Themen, Verhältnisse und Geschehnisse nachzudenken, die trennend oder einfach fremd sind. Das gehört zur ökumenischen Aufgabe der Theologie.

Dies lässt sich gut anhand eines Beispiels darstellen. Nehmen wir mal eine heute vielen Menschen «abstrus» vorkommende kirchliche Lehre, zu der sich (auch) die Christkatholische Kirche bekennt: die ewige Jungfräulichkeit von Maria. Die erste Überraschung ist vielleicht, dass diese Lehre überhaupt zum Glauben der Christkatholischen Kirche gehört – sie entstammt der Spiritualität der alten Kirche und ist daher auch vielen anderen Kirchen wichtig. Wie geht man damit um? Diese etwas merkwürdige Lehre auf dem kirchlichen Estrich zu entsorgen, ist attraktiv, denn wer kann damit eigentlich noch etwas anfangen? Sie ist altmodisch, biologisch unmöglich und zudem wohl noch körper- und frauenfeindlich. Nun war diese Lehre in der alten Kirche aber recht beliebt – besonders unter Mönchen und Nonnen. Wieso? Wer diese Frage ernst nimmt, kann eine Brücke zur Kirche von «Vorgestern» bzw. «der Anfänge» bauen. Die Antwort auf diese Frage lohnt sich denn auch, so überraschend sie sein mag: Es ging damals bei der «ewigen Jungfräulichkeit» Marias nicht primär um Biologie, sondern um persönliche Integrität, spirituelle Offenheit auf Gott hin und um moralische Authentizität und Treue zu Christus. Die «ewige Jungfräulichkeit» bezeichnet ein spirituelles Ideal, das Verkörperung sucht – die Verkörperung, die in der Antike am besten dazu passte, war die «jungfräuliche», verstanden als körperliche Existenz, die Integrität sicherstellte (Sexualität wurde, sicher für Frauen, mit Unterwerfung assoziiert). Heute mag das anders sein – die konstruktive Frage lautet denn auch: Was wäre heute eine entsprechende Verkörperung christlicher Existenz? So betrachtet, kann eine alte Quelle für heute wieder relevant werden. Sie ist jedenfalls noch lange nicht reif für den kirchlichen Estrich.

Eine solche Entdeckung setzt allerdings den Zugang zu den alten Quellen voraus. Man muss bereit sein, eine gewisse denkerische Arbeit zu leisten und so über die Grenzen der eigenen Zeit und des eigenen Kontexts hinaus zu schauen. Von grosser Bedeutung sind dazu – gerade für die Systematische Theologie – die Kenntnis moderner und alter Sprachen. Solche Kenntnisse sind ein Schlüssel für die Verständigung und damit für Gemeinschaft und Versöhnung über Grenzen von Kultur und Zeit hinaus. Sprachen sind dazu da, um Studierenden (und Dozierenden) Verbindungen und Beziehungen zu ermöglichen – gerade auch zu den Quellen des Glaubens. Aus dieser Perspektive heraus betrachtet sind alte Sprachen tatsächlich eher Quelle als Qual – und eine bleibende Voraussetzung für das Betreiben der Theologie im Zeichen von Grenzen überwindender Gemeinschaft.

Prof. Dr. Peter-Ben Smit