Neujahrsbotschaft der Synodalratspräsidentin

Liebe Christkatholikinnen,
liebe Christkatholiken


Als ich damit begann, meine diesjährigen Gedanken zum Jahreswechsel zu verfassen, befand sich die Schweiz Mitten in den Wahlen zum Eidgenössischen Parlament. Und jetzt, nach der vollständigen Besetzung beider Räte und nach abschliessendem Lesen und Überdenken der Neujahrswünsche an Sie, liebe Mitglieder unserer Kirche, stelle ich fest, dass die vergangenen Monate an mir vorbeigeflogen sind. Es ist dies keine neue Erkenntnis, aber wir spüren es: Alles wandelt sich, fortwährend, überall, in der Natur, bei Technologie und Wirtschaft, am Arbeitsplatz, in der Politik, auch im Leben jedes einzelnen Menschen.

Ganz aktuelle Beispiele wären etwa der Klimawandel, die Digitalisierung, und – sehr persönlich – neue Formen des Zusammenlebens innerhalb und ausserhalb der Familie. Es sind Fragen, die in den frühen Achtzigern niemand stellte, einfach weil diese Fragen nicht gestellt werden mussten. Die eine, sich aber unweigerlich aufdrängende Frage «War denn früher alles besser?» begründet Michel Serres (französischer Philosoph 1930-2019, Sorbonne Paris, Stanford University) so: «Die Fortschritte haben eine hohe Lebenserwartung gezeitigt und diese wiederum hat uns eine grosse Zahl von Greisen beschert. Viele von ihnen kommen zur Macht, in der Politik zum Beispiel, um sie für ihre Fortschrittsverweigerung zu nutzen. Die Krux dabei ist, dass sich damit schlussendlich der Fortschritt selbst ausbremst.»

Damit bringt Serres zum Ausdruck, dass wir den Wandel in der Gesellschaft nicht ablehnen, ignorieren dürfen; er findet so oder so statt. Genau deshalb sollten wir uns bewusst sein, dass die Art und Weise, wie wir Veränderungen angehen ein Prüfstein unseres alt- (christ-) katholischen, bischöflich-synodalen Selbstverständnisses sein muss, sowohl auf die Schweiz wie auch auf die Utrechter Union bezogen. Ich schliesse mich deshalb gerne Serres’ Überlegungen an und wünsche mir nicht nur einen geschichtlichen Rückblick (in die Vergangenheit), sondern auch einen geschärften Blick in die Zukunft, genauer, auf die Herausforderungen, die wir gemeinsam bewältigen wollen. Viele, möglichst differenzierte Anregungen, offene, lebendige und auch kritische Diskussionen werden uns weiterbringen und unseren Horizont erweitern.

Unsere Kirche feiert in den kommenden Jahren einige Jubiläen. 2020 jährt sich der 150. Jahrestag zum 1. Vatikanum. 2024 stehen das Jubiläum zu 150 Jahre Verfassung der Christkatholischen Kirche und der 100. Todestag des ersten Christkatholischen Pfarrers und unseres ersten Bischofs, Eduard Herzog, an. Etwas später feiern wir 150 Jahre Christkatholische Theologie in Bern, 150 Jahre Christkatholische Landeskirche Bern, 150 Jahre Synode und erstmalige Bildung des Synodalrats. Aus meiner Sicht haben wir allen Grund zum Feiern und wir dürfen mit Freude und Stolz auf die Anfänge unserer liberalen, christkatholischen Kirche und auf ihre Entstehung zurückblicken. Gleichzeitig bietet sich die Gelegenheit, uns den aktuellen Fragen zu stellen und miteinander zu diskutieren, wie wir unsere Kirche in der Zukunft gestalten wollen. Eine der negativen Folgen des Wandels in der Gesellschaft ist allerdings die Tatsache, dass immer mehr Menschen konfessionslos werden. Aber konfessionsfrei ist nicht automatisch glaubensfrei. Darum müssen wir uns bemühen, «attraktiv» zu bleiben und offen für Neues sein.

Stellvertretend für viele anstehende Fragen steht daher auch die brandaktuelle Thematik «Ehe für Alle», die wir an einer eigens zu diesem Thema anberaumten Sondersynode diskutieren wollen, ja diskutieren müssen. Tragen wir Sorge zu unserer Kirche und zu ihrem Auftrag; sie wird uns auch in Zukunft begleiten und den Menschen in ihren religiösen und spirituellen Bedürfnissen helfen und – gleichzeitig – Freiräume für das eigene Denken und Handeln öffnen. Nehmen wir uns die Zeit um Ideen zu entwickeln und Ansätze vorzuschlagen, auch im Bewusstsein der Erkenntnis des ehemaligen deutschen Bundespräsidenten Gustav Heinemann (1899-1976): «Wer nichts verändern will, wird auch das verlieren, was er bewahren möchte.» Der Vergleich mit Serres’ Thesen ist verblüffend, nicht wahr?

Ich danke Ihnen für Ihre Verbundenheit und wünsche Ihnen und Ihren Familien von Herzen besinnliche Festtage und ein gesundes, erfolgreiches Jahr 2020.

Manuela Petraglio, (Präsidentin Synodalrat)