1871: Weichenstellungen auf dem Weg zur Christkatholischen Kirche

Vor 150 Jahren, am 31. März 1871, fand in Luzern die Schützenhausversammlung statt

Johann Baptist Egli

1870/71: Wie sich zu den Papstdogmen verhalten?

Die Diskussion über die Papstdogmen vom 18. Juli 1870 wurde 1870/71 in der Öentlichkeit überschattet vom Krieg zwischen Frankreich und Deutschland. Während sich in Deutschland die alt-katholische Bewegung durch Erklärungen und Zusammenküne zwischen August 1870 und September 1871 an verschiedenen Orten formierte, verlief die Entwicklung in der Schweiz anders. Dies hatte unterschiedliche Gründe: Die kantonale religionspolitische Zuständigkeit führte an den jeweiligen Orten zu verschiedenen Tempi und Handlungsmöglichkeiten im Umgang mit den Papstdogmen und ihren Folgen; das hiesige Kirche-Staat-Verhältnis unterschied sich deutlich von der bundesstaatlich organisierten, konstitutionellen Monarchie des Deutschen Kaiserreichs, was zu erheblichen politischen Einflussmöglichkeiten (christ-)katholischer Politiker (und damit von Laien) führte; die Anfänge der alt-katholischen Bewegung in der Schweiz fielen 1871 bis 1874 mit der Revision der Bundesverfassung zusammen und wirkten aufeinander ein; die Polarisierung in den einzelnen Bistümern und die Behandlung der Gegnerinnen und Gegner schäumte zunächst nicht mit der gleichen Vehemenz auf wie im 1871 gegründeten Deutschen Kaiserreich; die spezische katholische Mentalität gerade in einer liberalen Stadt wie Luzern führte – anders als in Deutschland – zunächst nicht zu einer Polarisierung zwischen Befürwortern und Gegnern des Konzils, da die neuen Dogmen weder bei konservativen Katholiken wie dem Staatsmann Anton Philipp von Segesser noch bei liberalen Katholiken auf Zustimmung stiessen.

Es gab verschiedene Weisen, wie Katholiken und Katholikinnen, die die Papstdogmen ablehnten, damit umgingen: Während von Segesser und andere mit ihm den Standpunkt vertraten, man müsse an die Dogmen ja nicht glauben, man dürfe ihnen nur nicht widersprechen, entschieden andere Katholiken und Katholikinnen sich für die innere Emigration. In beiden Fällen verstummte die innerkirchliche Opposition. Eine dritte Gruppe waren diejenigen, die schliesslich – oft nach einer Phase des Stillhaltens und Stillschweigens – ihren Protest öffentlich kundtaten. Priester und geistliche Lehrer nahmen damit auch die entsprechenden Konsequenzen einer Amtsenthebung einschliesslich Brotlosigkeit auf sich.

Während viele Katholikinnen und Priester also 1870/71 noch damit beschäftigt waren, über ihre eigene persönliche Verhältnisbestimmung gegenüber den neuen Dogmen und ihr Verhalten zu entscheiden, unternahmen Andere bereits konkrete Schritte zur Vernetzung untereinander und nahmen Kontakt auf mit der sich formierenden alt-katholischen Bewegung in Deutschland. Im Frühjahr 1871 nahm der Aargauer Landammann Augustin Keller an einer Versammlung in Heidelberg teil und war im September 1871 Vizepräsident des ersten (Alt-)Katholikenkongresses in München. Dort nahmen ausser ihm auch der Berner Rechtsgelehrte Walther Munzinger und der thurgauische Regierungsrat und spätere Bundesrat Fridolin Anderwert teil. Sie leisteten so einen wichtigen Beitrag zur Vernetzung der Konzilsopposition.

Der Konflikt spitzt sich zu

Es rumorte in der Schweiz damals vielleicht weniger als in Deutschland, still war es aber auch in der Schweiz nicht. Bereits während des Konzils wurden konzilskritische Beiträge des in München lehrenden Kirchenhistorikers Ignaz von Döllinger in der Schweiz gelesen. Von April bis Dezember 1870 erschien jeweils freitags die „Katholische Stimme aus den Waldstätten“, die der Stadtpfarrer Melchior Schürch mit Eduard Herzog, damals Theologieprofessor in Luzern, und zwei weiteren gründete. Die Herausgeber stellten dieses „Organ für die Besprechung religiöser Tagesfragen“ auf Druck der kirchlichen Obrigkeit und Anfeindungen als „kirchenfeindlich“ jedoch wieder ein, obwohl es ihnen weder an Anerkennung noch an Abonnenten gebrach. Der „Kampf gegen die vatikanischen Irrlehren“ wurde „keineswegs in übertriebener Hoffnung begonnen“ schrieb Eduard Herzog am 25. Februar 1871.

Es blieb nicht beim bischöflichen Warnschuss gegen die „Katholische Stimme“. Am 6. Februar 1871 promulgierte der Bischof von Basel, Eugène Lachat, die Dogmen in einem Hirtenbrief und behauptete, es handle sich nicht um eine neue Lehre. Lachat stellte sich damit gegen die Diözesankonferenz des Bistums Basel, zu der Kultusdirektoren verschiedener Kantone gehörten. Die Diözesankonferenz hatte Bischof Lachat mit Schreiben vom 8. September 1870 geboten, „im Interesse des bisher befriedigenden Einvernehmens zwischen geistlichen und weltlichen Behörden, im Interesse des Friedens und der Ruhe in unserer Diözese“ von einer Veröffentlichung der Konzilserlasse Abstand zu nehmen. Im Fall einer Publikation drohte die Diözesankonferenz mit weitreichenden Massnahmen: der Kündigung des Bistumsvertrags.

Der Strafhauspfarrer Johann Baptist Egli, der in der populären Wochenzeitung „Der Wächter am Pilatus“ Beiträge zur Unfehlbarkeitsfrage publizierte, war bekannt für seinen Gerechtigkeitssinn. Im Gefängnisgottesdienst am 19. Februar 1871 las der fast 50jährige Priester den Fastenhirtenbrief des Basler Bischofs vor, liess aber den Abschnitt über das Unfehlbarkeitsdogma weg und äusserte sich einschlägig: „Von Jugend auf bin ich belehrt worden – aus dem Katechismus, als Student der Theologie von meinen Professoren, und seitdem aus theologischen Schriften, welche die bischöfliche Gutheissung auf der Stirne tragen: das unfehlbare Lehramt bilden die Bischöfe in ihrer Gesamtheit und der Papst miteinander, in einmütiger Übereinstimmung miteinander.“ Er weigere sich, etwas „mit dem Munde zu bekennen, was ich innerlich im Herzen nicht zu glauben vermag, und andern als Glaubenssache verkünden und als Glaubenspflicht aufzulegen, was ich nicht selber glauben kann.“ Egli, der sich in seinen volkstümlichen Schriften auch „Hans Gradaus“ nannte, schrieb dem bischöflichen Kommissar Dr. Winkler gerade heraus, dass er nicht „durch Stillschweigen die Meinung über mich aufkommen“ lassen wolle, „als hätte ich fragliches Dogma angenommen“ und übersandte seine ganze Stellungnahme. Egli wurde am 26. Februar 1871 von allen geistlichen Funktionen enthoben, da er sich zu widerrufen weigerte. Er hoffte auf die Unterstützung der liberalen Regierung, die ihn als Staatsbeamten tatsächlich bis zum Ablauf seiner Amtsdauer weiter fungieren lassen wollte. Daraufhin verhängte Bischof Lachat am 10. März 1871 die Exkommunikation über Egli, die ihm tags darauf persönlich in lateinischer Sprache vorgetragen wurde. Den Gläubigen wurde ausdrücklich verboten, seinen geistlichen Amtshandlungen beizuwohnen.

Der liberalen Luzerner Regierung kam dieser Konflikt im damals bereits rauhen Klima zwischen Regierung und kirchlichen Behörden äusserst ungelegen; Anfang Mai 1871 standen Grossratswahlen an. Egli wurde nun dazu überredet, selbst für sakramentale Funktionen einen Stellvertreter zu suchen und nur noch Funktionen wie Predigt und Christenlehre zu übernehmen – die beabsichtigte Schadensbegrenzung zeitigte jedoch nicht den beabsichtigten Erfolg. Die Wellen liessen sich nicht so einfach glätten. In der Presse wurde nun offen zum Protest gegen die Unfehlbarkeitslehre und gegen Priester, die sie vertraten aufgerufen. Familienväter sollten ihre Kinder nur noch zu unfehlbarkeitsgegnerischen Priester in den Unterricht schicken.

Schützenhausversammlung am 31. März 1871

Am 31. März 1871, dem Jahrestag des zweiten Freischarenzugs von 1845, versammelten sich etwa 400 Bürger im Schützenhaus zu Luzern. Die Bezugnahme auf historische kirchenpolitische Auseinandersetzungen der 1840er Jahre und die Tatsache, dass gerade an diesem Tag Döllingers berühmte Antwort an den Erzbischof von München (vom 29. März 1871) bekannt wurde, in der er schrieb, er könne die Unfehlbarkeitslehre „als Christ, als Theologe, als Geschichtskundiger, als Bürger“ nicht annehmen, bildeten das symbolträchtige historische und kirchenpolitische Ambiente dieser Versammlung. Der gewählte Ort, das Schützenhaus, war ein bekannter Schauplatz liberaler Parteitreffen in Wirtshausatmosphäre. Mehrere Grossräte waren anwesend, unter ihnen prominent der Präsident und Hauptredner der Versammlung, Ständerat Abraham Stocker-Steiger. Während von Segesser diese Männer in seinen Privatbriefen abschätzig als „gänzlich Ungläubige“ bezeichnete, wertet die neuere Forschung, repräsentiert durch Heidi Bossard-Borner, ihr Anliegen differenziert: Es sei den Versammelten nicht nur um Parteipolitik, sondern „um die Vision einer im liberalen Demokratieverständnis verankerten Ortskirche“ gegangen. In der polemisch aufgeladenen damaligen Situation wurde die Erklärung der Versammlung gegen die Unfehlbarkeit von der Gegenseite jedoch verunglimpft: sie untergrabe den katholischen Glauben. Gleiche Kritik galt dem Appell der Schützenhausversammlung, den Schutz der Glaubensfreiheit durch die Bundesverfassung zu sichern.

Wie es danach weiter ging

Der Effekt all dieser Ereignisse war eine Verhärtung der Fronten: Das konservative Lager, das anfangs in der Unfehlbarkeitsfrage durchaus gespalten war, betonte in der Folgezeit die Treue und Verbundenheit mit der römisch-katholischen Kirche und dem Papst und stellte sich polemisch gegen die „Zuchthauskirche“ mit Egli als Oberhaupt. Der Papst, dessen Kirchenstaat durch die italienischen Truppen am 20. September 1870 eingenommen wurde, wurde als nunmehriger „Gefangener im Vatikan“ für viele romtreue Katholiken geradezu zum Märtyrer. Die ultramontane Papstverehrung wurde dadurch enorm angefacht. Bei den Wahlen von 1871 gewannen die Konservativen im Kanton (in der Stadt Luzern konnten sich die Liberalen behaupten).

Anders als Egli blieb Eduard Herzog, der damals noch in Luzern lebte, 1871 unbehelligt, obwohl seine Haltung bekannt war. Von Segesser hielt die Hand über ihn; er wollte eine Polarisierung vermeiden und den Kanton Luzern nicht „zum Schauplatz eines Ketzergerichts“ machen, wie dies in Deutschland geschehen sei. Schliesslich war es Eduard Herzog selbst, der 1872 Bischof Lachat gegenüber Stellung bezog und als Pfarrer der alt-katholischen Gemeinde Krefeld nach Deutschland ging.

Mit dem Regierungswechsel endete 1872 Eglis Amtszeit. Der Brotlosigkeit entging er, da er mit Hilfe von Walther Munzinger eine Kanzlistenstelle in Bern bekam und am 8. Dezember 1872 auf Vermittlung von Augustin Keller, dem Ehrenbürger von Olsberg, in diesem Fricktaler Dorf zum Pfarrer gewählt wurde. Nach seinem Tod 1886 würdigte Bischof Herzog den auch als christkatholischen Pfarrer nicht immer bequemen Egli als ersten schweizerischen Priester, „der unter Aufopferung seiner ganzen Existenz für das Werk einer Reform der katholischen Kirche eintrat.“ Im gleichen Jahr, 1886, starb auch Lachat, seit 1885 Apostolischer Administrator des Tessins; Lachat wurde 1873 von den Diözesanständen abgesetzt und verwaltete von Luzern seine Diözese, nachdem er des Kantons Solothurns verwiesen worden war.

In der liberalen Stadt Luzern blieben die Folgen der „Egli-Affäre“ und der Schützenhausversammlung auch nach der Absetzung Eglis noch lange spürbar. Letztlich gab sie wichtige Impulse auf dem Weg zur Formierung der Christkatholischen Kirche einige Jahre später. Freisinnige Politiker verwendeten die nationalkirchlich ausgerichtete und demokratische Argumentation der Schützenhausversammlung auch an anderen Orten. In Luzern fanden Katholiken und Katholikinnen aus verschiedenen Schichten zur christkatholischen Gemeinde. Am 17. November 1883 fand – erneut im Schützenhaus – die Gründung einer christkatholischen Genossenschaft statt. Ehemalige Mitstreiter Herzogs wie der Luzerner Stadtpfarrer Schürch warnten die Katholikinnen und Katholiken Luzerns Anfang 1884 davor, sich der christkatholischen Kirche anzuschliessen. Abraham Stocker-Steiger wurde zum Begründer der Luzerner christkatholischen Gemeinde.

Prof. Dr. Angela Berlis


Literatur:

  • Heidi Bossard-Borner, Im Spannungsfeld von Politik und Religion, Basel 2008-2017, 3 Bde.
  • Teun Wijker, Johann Baptist Egli, Pfr. Von Olsberg, in:
    Christkatholisches Kirchenblatt 120 (1997), 381-383