Beten mit Leib und Seele: Disziplinieren oder Geisseln?

Die neun Gebetsweisen des heiligen Dominikus. Bibliotheca Vaticana (Codex Rossianus 3)

Dafür fehlt mir jedes Verständnis. Sich geis­seln!? Als ob es auf der Welt nicht schon genug Leid gäbe. All dem Leid muss doch nichts hinzugefügt werden. Mit dieser Übung aus der Sammlung des Dominikus kann ich gar nichts anfangen. Sie befremdet mich nicht nur. Sie stösst mich ab.

Doch: Wenn ich an einem bestimmten Fitness-Studio in Basel vorbeigehe, schaue ich in die verschwitzten, leicht gequälten Gesichter der Frauen und Männer, die sich auf Laufbändern oder in Maschinen eingeklemmt um Kraft, Gesundheit und Körperform bemühen. Auch sie züchtigen sich, um ein höheres Ziel zu erreichen. Gibt es einen Zusammenhang?

Die christliche Tradition kennt die Geisselung ursprünglich nicht. Sie taucht erst ab dem 8. Jahrhundert auf. Bis ins hohe Mittelalter lehnt man sie als «unnötige Neuerung» ab. So würde ich es auch sehen. Unnötig. Völlig unnötig. Und doch bleibt da diese seltsame Lust, auch von modernen Menschen, sich zu peinigen und bis zum letzten zu trainieren. Gibt es eine Tür für das spirituelle Verständnis dieser – in meinen Augen – absonderlichen Übung?

Eine Tür sehe ich. Eine kleine Verständnistür, die einen schmalen Spalt offensteht: Man nannte die Selbstgeisselung stets «disciplina», d. h. «Erziehung» oder «Formung». Das eigene Selbst sollte geformt und transformiert werden. Also gut, das ist verständlich. Sich einer Disziplin unterwerfen, das braucht es oft im Leben. Disziplin, um Missstände klar zu benennen; Disziplin, um den Nörglern nicht das Feld zu überlassen. Auch der geistliche Weg braucht Disziplin. Aber Disziplin heisst nicht Versklavung an eine Idee. Droht beim Geisseln nicht die Gefahr, sich über Leistung ins Heil vorzuarbeiten? Ins Heil, das uns schon längst geschenkt ist? Warum muss Blut fliessen, wenn die Welt schon erlöst ist durch die Hingabe, durch das Leiden Christi?

Brauchen wir geistliche Hochleistungsath­leten? Ein dominikanischer Mystiker und Poet des 14. Jahrhunderts, Heinrich Seuse, gibt mir eine Antwort. Nachdem er sich sein halbes Leben mit Nägeln und Lederriemen gegeisselt und perfide gequält hatte, wurde ihm in der Meditation durch die göttliche Geisteskraft klar, dass seine Qual nicht der Wille Gottes sei! Und – so Seuse in seiner Autobiographie – «da ließ er davon und warf das ganze Nagel- und Riemenwerk in ein tiefes Wasser.» Eine gute Lösung!

Die Perspektive für mich: Sich formen lassen, eine innere Verpflichtung übernehmen, einer regelmässigen Übung zu folgen, dem geistlichen Leben eine Ordnung geben. All das ist gut. Und sinnvoll. Das Sich-Geisseln ist es nicht.

Pfarrer PD Dr. Michael Bangert