Beten mit Leib und Seele

Vorbemerkung: Die Klosterkirche der Dominikaner in Basel – die Predigerkirche – wird in diesem Jahr 750 Jahre alt. Das soll Anlass sein, eine Sammlung von Gebetsweisen, die auf den Gründer des Predigerordens, den hl. Dominikus (1170-1221) zurückgehen, nach und nach vorzustellen. Ein unbekannter Autor des 13. Jahrhunderts hat die Vielfalt des Betens, die sich bei Dominikus und seinen Ordensbrüdern fand, in 9 Gebetshaltungen zusammengefasst. Die achtsame Wahrnehmung des Körpers ist bei allen Gebetshaltungen grundlegend: Der Körper öffnet der Seele eine Tür zur Ruhe und zum Sein in der Gegenwart Gottes. Im Verlauf des Mittelalters wurde die Sammlung bebildert. Die Miniaturen einer Handschrift aus dem 15. Jahrhundert, die sich in der Bibliotheca Vaticana (Codex Rossianus 3) befindet, verfügen über eine besondere Stahlkraft. Hier übernimmt zudem – entsprechend der Frömmigkeit der Vorreformationszeit – das Kreuz eine zentrale Funktion. An dieser Stelle werden in den kommenden Ausgaben im Wechsel diese alten Miniaturen und moderne Federzeichnung, die der Kunstzeichner Ernst Kern aus Muttenz im Auftrag der Kirchgemeinde Basel gefertigt hat, die Anregungen für geistliche Impulse sein.

Gebetshaltung im Codex Rossianus 3.

Sich neigen

Nein, I am not the Greatest!
Nein, wahrlich nicht.
Nicht die Grösste. Nicht der Beste.
Ich weiss, wie fragil ich bin und ängstlich.
Angewiesen auf andere.
Auf ihre Liebe und ihre Zärtlichkeit.

Das Stocksteife aufgeben und loslassen.
Die Härte der Selbstbehauptung ablegen.
Ich neige meinen Kopf, meinen Körper,
weil ich weiss, dass die Liebe grösser ist als alles.
Weil die wehrlose Liebe
sich zu mir geneigt hat. Seit ewig.

Das Neigen im Beten verbiegt nicht.
Die Seele wird weich und grazil,
biegsam und fliessend.
Formbar der liebenden Hand Gottes.
Im Neigen schenke ich Achtung.
Im Neigen wächst meine Demut.

Das grosse Geheimnis Gottes,
vor dem ich mich neige, tröstet.
Richtet mich auf. Wohnt in mir.
Das Neigen schenkt Einsicht:
Leben und Sein sind umfangen!
Wer zu neigen sich wagt, schaut tiefer.

Pfarrer PD Dr. Michael Bangert