Ein Armer! Barmherzigkeit!

Luchart-Relief, 1170, Münster Basel (Foto: Michael Bangert)

Einer, der seinen dürren, abgemagerten Körper nur unvollständig bedecken kann. Das dünne Gewand gibt den Blick auf die hervortretenden Rippen frei. Sein geringes Bündel trägt er mit einem Stab über dem Rücken und die leere Tasche hängt schlaff herunter. Mit grossen Augen scheint er ins Ungewisse zu schauen. Doch der Arme auf dem sogenannten Luchart-Relief aus der Basler Münsterkirche verelendet nicht. Sein Zustand ist unverkennbar jammervoll, doch dieser Mensch muss nicht in Scham oder Hoffnungslosigkeit versinken. Er muss es deshalb nicht, weil die «misericordia» – hier personifiziert als Frau mit weitem Gewand und Haube – ihn bei der Hand genommen hat. Und nicht nur das: Diese Barmherzigkeit hat die Rechte des Armen ergriffen und auf ihre Brust, auf ihr Herz gelegt. Die «misericordia» lässt sich in ihrer Mitte von dem Armen anrühren. Sie ergeht sich nicht in oberflächlichem Mitleid. Der Arme berührt ihr Herz. Sie nimmt ihn mit in die Dynamik ihrer Existenz hinein.

Unser Bild zeigt, wie sie mit beiden Beinen fest auf dem Boden steht. Der  Zeigefinger ihrer linken Hand gibt eine Richtung an; sie weist voran und über sich hinaus. Für christliche Spiritualität ist es wesentlich, der Barmherzigkeit eine Perspektive, ein Ziel zu geben. Denn es ist letztlich wenig förderlich, wenn der helfende Mensch sich in der Lust am Helfen verliert. So haben die modernen Humanwissenschaften solche Selbstbezogenheit mit dem Begriff «Helfer-Syndrom» charakterisiert. Die Barmherzigkeit erhebt sich auf unserem Sandsteinrelief nicht über das Opfer der Armut. Vielmehr lässt sie den Geplagten – fast mütterlich – nahe an sich heran, um ihn auf diese Weise in eine zukunftsorientierte Bewegung zu versetzen. Materielle Kargheit lässt sich für einen Menschen durchaus ertragen, ohne die Selbstachtung zu verlieren. Aber Entwürdigung, Ziellosigkeit und Hoffnungsverlust steigern das Arm-Sein zu Verelendung, Isolation und Unglück. 

Die Botschaft Jesu von Nazareth hat eine eindeutige Option: Die Armen, Geplagten und Zukurzgekommenen sind Erscheinungsorte Gottes in dieser Welt! Niemand darf sie zu Objekten mildtätiger Affekte reduzieren. Das Matthäus-Evangelium (Mt 25,31–46) geht so weit, die Armen, Unfreien und Geschundenen mit Jesus Christus selbst zu identifizieren. In christlicher Ausrichtung wird mystische Frömmigkeit gar nicht anders können, als die Christusnachfolge konkret werden zu lassen, um so zu versuchen, den Mitmenschen mit dem liebenden Blick Gottes zu betrachten. Daraus erwächst der Grundauftrag zur Diakonie. Christliche Mystik lebt von der Dynamik der Liebe, die sich dem Anderen, der Anderen in Respekt, Menschenfreundlichkeit und Güte zuwendet. In dieser Liebe lässt sich das Geheimnis Gottes finden (vgl. 1 Joh 4,16b).

Pfarrer Dr. Michael Bangert