Spannend Leben

«Der barmherzige Samariter» aus dem Evangeliar von Kaiser Otto III. Entstanden im Kloster Reichenau im 10. Jahrhundert. Heute in der Bayrischen Staatbibliothek, München.

Wie oft hört man: Christen sind langweilig.
Immer brav. Immer diszipliniert.
Stets ordentlich. Keine Sünden.
Eben: Brave Mädchen kommen in den Himmel –
und böse überall hin!
Ein wohltemperiertes, laues Leben?
Ohne Ausschläge nach oben oder unten?
Kraftlos dahin plätschernd wie brackiges Wasser.
Christlicher Glaube in bürgerlicher Konvention erstickt.
Alle ahnen: Das ist nicht der Weg Jesu.
Nicht seine Sicht auf den Menschen, auf uns.

Die Buchmaler im Mittelalter kannten das Wesen des Menschen.
Hell und dunkel. Schwarz und weiss. Wut und Güte. Liebe und Hass.
Sie machen aus dem Gleichnis ein dramatisches Spiel.
Der Samariter als Held einer Umkehr zum Guten!
Oben verlässt ein Mann auf seinem fuchsigen Pferd Jerusalem, die heilige Stadt.
Gleich fällt er vier Räubern in die Hände. Lanze und Keulen drohen.
Schützend hebt er die Hand vor dem Chefräuber.
Der, mit erhobener Keule, setzt ihm den Fuss auf die Brust.
Es wird ein vernichtend brutaler Schlag.
Der Haupttäter – gelbes Gewand, purpurner Mantel, rotes Beinkleid –
hat seine Ziele erreicht. Reiche Beute. Zudem das Pferd als Raubgut.

Doch der Überfallene – er wird gerettet. Es kommt einer, der sich erbarmt.
Der seine Wunden salbet und pflegt. Ihn schützt, aufhebt und birgt.
Er führt ihn zum Wirt. Zahlt alle Kosten. Sorgt sich. Damit er lebt.
Welch’ Wunder ist das: Der Retter mit gelbem Gewand, purpurnem Mantel, rotem Beinkleid!
Der Täter als der Retter? Ist er nicht ruchlos, verfallen, verdammt?
In der Tiefe des Heils wohnt nur die Umkehr aus Liebe.
Niemand ist schuldlos. Wer wollte die Steine werfen? Als Erster?
Der Buchmaler kennt dies Lebensgeheimnis: Keiner ist ledig der Schuld.
Verworfen ist nur, wer im Bösen verharrt. Niemand ist heil nur durch sich.
Der Samariter ist gut, da er sich ändert:
Wie das Pferd, das Seelentier, das zum Schimmel gewandelt, das Opfer trägt.

Es gibt eine glückliche Schuld – für den, der umkehrt und heilt.  

Pfarrer Dr. Michael Bangert