Verletzlich lieben

Egbert-Codex: Christus und ein Jünger in Emmaus (Ausschnitt). Der Egbert-Codex entstand um 980 im Auftrag des Bischofs von Trier, Egbert (950–993) im Kloster Reichenau am Bodensee. Heute befindet sich der Codex in der Stadtbibliothek Trier.

Zwei gehen fort.
Auf nach Emmaus.
Nur nicht mehr Jerusalem.
Die Stadt der Qualen.
Geschlagen hat dort ihren Meister der Tod.
Ins Leid. Ans Kreuz. Ins Nichts.
Die zwei können nicht bleiben.
Nur fort. Fort aus den Fängen der Trauer.
Voll sind die Herzen.
Die Lippen quellen.
Über und über von Kummer.
Von Erinnerung, geronnener Hoffnung.
Sie reden und reden.
Dann sind die zu dritt.
Die beiden Flüchtenden: Blind.
Erkennen nicht den verloren Geglaubten.
Sie erzählen all’ das Erlebte.
Die Schrecken. Die Qual. Das Zerbrechen.
Er hört und hört.
Sein Hören öffnet ihr Herz.
Macht sie selig im Reden.
Doch will der Fremde nicht bleiben.
Sie drängen und bitten.
Er bleibt. Bricht das Brot.
Da gehen die Augen über.
Nicht mehr der Mund.
Staunen. Ungläubig.
Das Auge des Einen weitet sich uferlos.
Saugt seine Nähe.
Die Wunde der Hand: Blutrotes Zeichen.
An der Wunde, der offenen,
Erkennt er den Meister.
An der Wunde erkennt er die Liebe.
Die Liebe, die niemand verletzt.
Doch alle verletzlich macht.
Verletzliches Lieben
Besiegt tausend Tode.
Lebt ohne Grenzen.

Text und Bild: Michael Bangert