Wo wir uns kennen

Niemand sieht sich selbst.
Nur das getrübte Auge
sieht die eigene Trübung.
Niemand sieht sich selbst.
Nur die Spiegelung
eröffnet die Ahnung
vom Ich,
vom Selbst.
Im Augenglanz des Du.
Im liebenden Widerschein
auf dem Antlitz des anderen.

Wo erkennen wir uns?
Als Kirche?
Als Gemeinde?
Als Mensch?
Worin erkennen wir uns?
Im mächtigen Geld?
Im Ansehen des Marktes?
In der aufgeplusterten Angst?
Selbstgefälliges Schreiten,
im Gewohnten,
auf roten Teppichen?

Das Leben schenkt
unerwartet den Spiegel,
das staunende Schauen.
Plötzlich zeigt sich
im Alltag das Unvermutete.
Eigenes wird sichtbar.
Eine Skizze des Seins.
Unsichere Form.
Fragile Linien.
Ungesicherter Blick.
Das ganze Sein im Fragment.

Darin
erkennen wir uns.

Michael Bangert

 

Foto: Die christkatholische Predigerkirche spiegelt sich in der Fassade des Universitätsklinikums Basel.