Ein rätselhaftes Kind

Jesus sprach zu seinen Eltern: Warum habt ihr mich gesucht? Wusstet ihr nicht, dass ich in dem sein muss, was meinem Vater gehört? Lk 2, 49

Jesus ist 12 Jahre alt, mit seinen ­Eltern pilgert er nach Jerusalem, im Tempel feiert er seine Bar Mizwah, die ihn kultisch zum erwachsenen Mann macht. Das aber hat Konsequenzen. Er trennt sich von der Pilgergruppe, damit auch von seinen Eltern, bleibt im Tempel, wird auf dem Heimweg bald einmal vermisst, die Eltern müssen ihn suchen, drei Tage lang, bis sie ihn bei den Schriftgelehrten wiederfanden. Ohne Schuldbewusstsein, selbstbewusst. Seine Mutter versteht ihn nicht.

Bei wem ist nun eher unser Mit­gefühl, bei der Mutter oder beim Sohnemann? Auf Anhieb wohl bei der Mutter. Warum sagt er nicht, was er vorhat, fragt sogar um Erlaubnis? Erspart ihr so Sorge und Angst. Rücksichtnahme auf die Gefühle anderer. Unbedingt.

Daneben der 12-jährige Manngewordene. Er beginnt, seinen eigenen Weg zu beschreiten, lässt Gott Raum in sich selbst greifen. Mit anderen Worten: Er entdeckt sich selbst als Gegenüber seiner Mutter, seiner Familie, seiner Umwelt. Und dabei kann er keine Kompromisse schliessen. Auch wenn er damit andere vor den Kopf stossen, ihnen rätselhaft erscheinen mag. Er steht quasi auf der oft schmerzhaften Grenze zwischen der Verlockung einer Geborgenheit in Vertrautem, in der Familie, bei der Mutter, und der Unausweichlichkeit des Auszugs, ins Fremdland des Tempels. Und er trifft seine Wahl. Er kann nicht anders.

Und ich denke, hier weist er auch uns allen Wege zum Leben. Der Weg durch den Tempel sozusagen, der mitunter lange und oft auch schmerzhafte Gang zur eigenen Mitte, macht schliesslich einen Menschen zum Menschen. Hoffentlich.

Niklaus Reinhart