Er wird die Schafe zu seiner Rechten versammeln, die Böcke aber zur Linken. Mt 25, 33
Am Ende kommt der Menschensohn wieder und setzt sich auf den Thron der Herrlichkeit. Dann werden alle Völker zusammengerufen, und nach Art des Hirten scheidet er die Böcke von den Schafen.
Es will mir zwar nicht gefallen, dass schliesslich allein die weiblichen Tiere gesegnet werden, während die Böcke unter die Räder kommen. Aber für den Text ist das ein Detail. Eher scheinen sich beide, Schafe als These und Böcke als Antithese, im Individuum als Synthese dialektisch zu verbinden. Niemand ist nur «Bock», niemand nur «Schaf», in jedem Menschen leben beide. Ich denke sogar, beide bedingen sich gegenseitig. Beide für sich allein genommen machen einen Menschen letztlich lebensunfähig, mit sich selbst und mit der jeweiligen Umgebung, und es ist daher, im Normalfall, eine Frage des Abwägens in Verantwortung, wie hier und jetzt je und je geschieden werden soll. Damit zwischen dem Schwarz der Böcke und dem Weiss der Schafe eine dem Leben zugewandte Farbe entstehen kann.
In der Messe beten wir: «Herr, ich bin nicht würdig, dass du eingehest unter mein Dach, aber sprich nur ein Wort, so wird meine Seele gesund.» Das ist keine formelhafte menschliche Selbstherabsetzung, um allenfalls in besserem Licht vor dem Menschensohn dazustehen, es ist vielmehr eine Leitlinie im Verhältnis der Böcke zu den Schafen. Wir müssen mit den inneren Böcken nicht allein fertigwerden. Sie machen uns zwar «unwürdig zum Mahl», aber wenn Gott nur ein Wort der Gnade spricht, vielleicht das Wort «Vergebung», dann ist das Dunkle zwar verurteilt, aber dennoch aufgenommen im Hellen, und dann sind wir würdige Gäste an seinem Tisch.
Niklaus Reinhart