Sehen

Jesus fragte den Blinden: Was soll ich dir tun? Dieser sagte: Herr, ich möchte wieder sehen können. Da sagte Jesus zu ihm: Geh! Dein Glaube hat dir geholfen. Mk 10, 51f.

Am Ausgang Jerichos sitzt der blinde Bartimäus am Strassenrand. Da hört er eines Tages eine Menschenmenge kommen, jemand sagt: Sie folgen Jesus nach. Was für eine Chance. Er schreit los. Jesus hört ihn, lässt ihn kommen, man bringt ihn zu ihm. So die Vorgeschichte.

Konnte Jesus wirklich einen Blinden heilen? Die Frage ist berechtigt, hier aber irrelevant. Die Geschichte hat einen doppelten Boden. Es geht nicht um physische Blindheit.

Ich stelle mir den Mann an der Strasse vor. Er sitzt dort, bettelt, wartet auf Hilfe, Leute werfen ihm eine Münze in den Hut, gehen vorbei. Sein Schicksal kümmert sie nicht wirklich. Das ist kein Leben, das ist Depression, und der Mann sieht keinen Ausweg. Und wahrscheinlich ändert sich nie etwas, nicht von selbst. Bis auf den einen Tag, an dem Bewegung aufkommt und sogar die Mauer des Elends durchbricht. Vielleicht ist das die letzte Chance. Wenn einer helfen kann, dann dieser Jesus. Also losschreien, so laut es geht. Ein letzter verzweifelter Versuch, eine Mobilisierung von Hoffnung: er will wieder sehen, auftauchen ins Licht, ins Leben. Und Jesus hilft ihm dabei. Ein Anfang ist gemacht. Die Depression ist gebrochen.

Wie geht es weiter? Es heisst, Bartimäus sei Jesus nachgefolgt. Was immer das heissen mag. Er mag die Erfahrung: «einer hat mir zugehört, hat mich ernst genommen, lässt mich nicht allein» in sich aufgenommen und weitergetragen haben, nicht ohne Momente des Zweifels vielleicht, mit Tagen des Unbehagens, aber vermehrt mit Tagen der Zuversicht, des klaren Blickes nach vorne. Kennen wir Ähnliches nicht auch? So oder anders?

Niklaus Reinhart