Wer braucht Versöhnung?

Versöhnung im Gleichnis vom verlorenen Sohn.

Frage: Warum muss sich der Mensch mit Gott versöhnen? Ist Gott ein schrecklicher Wutgott, der dauernd besänftigt werden muss, da er sogar seinen eigenen Sohn grausam opfert?

Sehr geehrte Frau S., vermute ich richtig, dass ihren Fragen eine Vorstellung zugrunde liegt, wonach es zwischen Gott und Mensch einen «Normal»-Zustand geben sollte, der keiner Versöhnung bedarf? Wie im Bild des Paradieses etwa. Dass es den so nicht zu geben scheint, zeigt ihre erste Frage. Aber wer ist schuld daran, dass es Versöhnung braucht? Gott oder der Mensch? 

Sie betonen das Erste. Seit je haben Menschen schon durch Rituale versucht, das unfassbare Göttliche zu beeinflussen oder wohlzustimmen. Der Gedanke eines bedrohlichen Gottes ist nachvollziehbar. Es gibt dazu Aufzählungen aus der Bibel, die Gott als strafenden, strengen Kriegsgott darstellen. Aber dort hat es auch viel Gegenteiliges: «Habe ich etwa Gefallen am Tod des Schuldigen» (Ez 18,23) z. B., und viele Zeugnisse der Für­sorge Gottes. Trotzdem sind wir oft schnell dabei, Gott als feindlich zu bezeichnen.

Die zweite Variante legt nahe, dass es am Menschen liegt. Entfremdung von Gott lässt uns irgendwie verkehrt leben, mit einem lebensfeindlichen Welt-, Gottes- und Menschenbild. Ihre Frage, Frau S., führt uns konkret zum 2. Korintherbrief des Apostels Paulus, Kap. 5: «Lasst euch mit Gott versöhnen». Seine persönliche Situation spiegelt sich darin. Er hat Anhänger Christi verfolgt bis zu seiner radikalen Bekehrung, die ihn zum eifrigen Apostel macht (Apg 9,1-22). Er erlebte die Notwendigkeit der Versöhnung konkret: Gott ergreift die Initiative und ermöglicht Umkehr und neues Leben. So wird deutlich: Nicht Gott, sondern wir brauchen die Versöhnung. Paulus betont die Liebe Gottes, die sich im unüberbietbaren Beitrag zur Versöhnung zwischen Gott und Mensch zeigt: Menschwerdung, Tod und Auferstehung Christi. Gott selber war es, der in Christus die Welt mit sich versöhnt hat, indem er den Menschen ihre Verfehlungen nicht anrechnete (2 Kor 5,19).

Versöhnung mit Gott befreit uns, weil sie uns konkret auch mit uns selber versöhnt und lieben lehrt. Dass nicht die Menschen Gott versöhnlich stimmen müssen, sondern die menschlichen Verstrickungen Gottes versöhnliche Zuwendung brauchen, zeigt z. B. das Gleichnis des barmherzigen Vaters (Lk 15,11-32). Und Jesus selber zeigt, wie Leben aus der Versöhnung in menschlicher Gemeinschaft als gelebte Nächstenliebe gelingen kann.

Pfarrerin Anne-Marie Kaufmann