Das Johannes-Evangelium

Jesus als der Weg, die Wahrheit und das Leben

Das letzte der vier Evangelien – dasjenige nach Johannes – unterscheidet sich in Inhalt, Sprache und Theologie deutlich von den drei anderen Evangelien. Das Bild Jesu erhält in diesem sehr vergeistigten, theologisch anspruchsvollen Evangelium noch einmal eine ganz neue Einfärbung, die für den christlichen Glauben und die christliche Spiritualität sehr wirkmächtig geworden ist.

Der Adler – Das Symbol des Evangelisten Johannes

Unterschiede

Das Johannes-Evangelium ist vermutlich am Ende des 1.  Jahrhunderts nach Christus (zwischen 90–100  n.Chr.) entstanden und ist damit das jüngste der vier Evangelien. Deutlich unterscheidet es sich von den drei anderen Evangelien, die man aufgrund der Verwendung gleicher Quellen auch als die drei synoptischen (vom griechischen Wort Synopse = Zusammenschau) Evangelien bezeichnet. Das Johannes-Evangelium ist dagegen ein äusserst eigenständiges Werk.

Die Unterschiede zu den Evangelien nach Markus, Matthäus und Lukas zeigen sich bereits im unterschiedlichen Ablauf der Jesusgeschichte. So zieht Jesus dem Johannes-Evangelium gemäss nicht nur einmal, sondern öfters mit seinen Jüngern nach Jerusalem. Die Austreibung der Händler aus dem Tempel, die in den drei synoptischen Evangelien sozusagen den Auftakt der Passionsgeschichte bildet, finden wir bei Johannes gleich zu Beginn des Evangeliums.

Auch in der Passionsgeschichte finden sich markante Unterschiede. So fehlt bei Johannes der Bericht des Abendmahles. An dessen Stelle wird jedoch – und nur bei ihm – davon berichtet wie Jesus seinen Jüngern die Füsse wäscht und sie auffordert, es ihm zukünftig gleich zu tun. Auch datiert, Johannes die Hinrichtung Jesu anders, nämlich am Rüsttag d. h. am Tag vor dem Passafest. Bei den anderen drei Evangelisten wird das Abendmahl als Passamahl gefeiert und die Kreuzigung Jesu findet damit am Tag des Passafestes selbst statt. Letztlich sind solche Aspekte allerdings Details. Gravierender sind andere Unterschiede zwischen Johannes und den drei anderen Evangelisten.

Papyrusrolle mit Text des Johannesevangeliums

Die johanneische Sprache

Das Johannes-Evangelium ist in einer an sich sehr einfachen, aber doch gleichwohl auch sehr geheimnisvollen Sprache abgefasst. Die Reden Jesu etwa im Johannes-Evangelium sind deutlich länger als in den anderen drei Evangelien. In diesen spricht Jesus vor allem in knappen, markanten Sprüchen und Gleichnissen zu den Jüngern beziehungsweise zur Menge. Bei Johannes ist vielfach eine geradezu kreisende Denkbewegung in den Texten zu sehen, Jesus spricht in veränderter Form immer wieder den gleichen Gedankengang aus. Dies verleiht den Reden Jesu im Johannes-Evangelium einen stark meditativen Charakter. Typisch für die johanneische Sprache ist auch die starke Verwendung von Dualismen. Diese Sprache lebt von starken Gegensätzen (Licht oder Finsternis, Leben oder Tod, Gott oder Teufel etc.).

Die Juden im Johannes-Evangelium

Der wirkungsgeschichtlich wohl problematischste Aspekt des Johannes-Evangeliums ist seine Darstellung der Juden. Zwar stellt auch das Johannes-Evangelium in aller Deutlichkeit fest, dass Jesus ein Jude war und das Heil von den Juden ausgehe. Deutlich stärker als die anderen Evangelien wird die Jesusgeschichte aber als eine Geschichte der Konfrontation zwischen Jesus und den Juden dargestellt. Der Begriff der «Juden» taucht dabei – so etwa im Passionsbericht – viel pauschalisierender auf als bei den anderen drei Evangelisten. Leider wurden so diese kritischen Passagen im Johannes-Evangelium oft als Anlass und Grundlage judenfeindlicher Äusserungen genommen. Historisch lassen sich die judenkritischen Passagen des Evangeliums damit erklären, dass das Johannes-Evangelium in einer Zeit entstanden ist, in der sich das Christentum zunehmend vom Judentum ablöste, und Christen teilweise auch aus den Synagogen ausgegrenzt und ausgeschlossen wurden.

Die hohe Christologie des Johannes-Evangeliums

Vielleicht der auffälligste Unterschied des Johannes-Evangeliums gegenüber den anderen drei Evangelien zeigt sich im Jesusbild, das gezeichnet wird. Bereits im sehr berühmten Prolog des Johannes-Evangeliums (Joh 1,1-18) wird Jesus als der fleischgewordene «Logos», das fleischgewordene Wort gedeutet. Von den ersten Zeilen des Evangeliums an wird so die göttliche Natur Jesu proklamiert. Auch in den Gebeten Jesu mit seinem «Vater» drückt sich ein tiefes Gefühl der Verbundenheit und Intimität aus. Die Gebete von Jesus mit seinem Vater wirken wie ein Gespräch auf Augenhöhe. Jesus ist sich im ganzen Johannes-Evangelium seiner Herkunft und Bestimmung klar bewusst, Zweifel daran, wie sie sich zumindest ansatzweise bei den anderen Evangelisten noch finden lassen, gibt es keine. Vielleicht am klarsten kommt das in den sogenannten sieben «Ich-bin-Worten» zum Ausdruck. Jesus bezeichnet sich darin als «Brot des Lebens», «Licht der Welt», «Tür», «der gute Hirte», «die Auferstehung und das Leben», «den Weg, die Wahrheit und das Leben» und als «der Weinstock». In all diesen «Ich-bin-Worten» markiert Jesus seinen Vollmachtanspruch.

Vollmachtsanspruch

Dieser Vollmachtsanspruch kommt auch in den – ebenfalls sieben – Wunderhandlungen Jesu im Johannes-Evangelium zum Ausdruck. Die Wunder Jesu im Johannes-Evangelium werden allerdings durchgängig als «Zeichen» bezeichnet. Zentral ist damit nicht der eigentliche Wundercharakter der Handlung Jesu als machtvolle Aufhebung der Naturgesetze. Vielmehr weisen die «Zeichenhandlungen» eben über sich hinaus, weisen auf etwas anderes, Transzendentes, hin. Diese sieben Zeichen im Johannes-Evangelium sind: die Wandlung von Wasser in den Wein auf der Hochzeit von Kana, die Heilung des Sohnes eines königlichen Beamten, die Heilung eines Gelähmten am Teich Bethesda, das Speisungswunder am See Genezareth, der Seewandel, die Heilung des Blindgeborenen und schliesslich das alle anderen Zeichen überbietende und auf die eigene Auferstehung hindeutende Zeichen der Aufweckung des Lazarus.

Baumkronen im Wald

Höhepunkt Passionsbericht

Die «hohe Christologie» des Johannes-Evangeliums findet schliesslich ihren Höhepunkt im johanneischen Passionsbericht. Dort erscheint Jesus geradezu als der souveräne Herr des Geschehens. Beim Verhör vor Pontius Pilatus – das eher als ein Lehrgespräch Jesu erscheint – wird in gros­ser Häufigkeit der Begriff des «Königs» verwendet. Es kommt dabei, geradezu zu einem letzten «Ich-bin-Wort» Jesu. Auf die Frage von Pontius Pilatus an Jesus, ob er denn nun wirklich ein König sei, antwortet dieser: «Du sagst es, ich bin ein König. Ich bin dazu geboren und in die Welt gekommen, dass ich für die Wahrheit Zeugnis ablege. Jeder, der aus der Wahrheit ist, hört auf meine Stimme.» (Joh 18,37).

Ein sich seiner selbst und seiner Sendung sehr bewusster Jesus zeigt sich bei Johannes auch bei dessen letzten Worten am Kreuz. Jesus stirbt im Johannes-Evangelium mit den Worten «Es ist vollbracht» – welch markanter Unterschied zur verzweifelten Klage («Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen») und zum leiderfüllten Schrei bei Markus und Matthäus!

Licht und Leben statt Finsternis und Tod

Gerade in diesem Bild von Jesus Christus als dem fleischgewordenen Gott und wahren König liegt die vielleicht wichtigste Bedeutung des Johannes-Evangeliums. Es beschreibt die Heilsgeschichte als den machtvollen Eintritt Gottes in die Welt. Wer diesem Jesus, dem «guten Hirten», nachfolgt, darf darauf vertrauen, selber in die Sphäre Gottes aufgenommen zu werden und von der Welt der Finsternis und des Todes auf die Seite des Lebens und des Lichtes hinüberzuwechseln. Dies, weil dieser Jesus – so wie ihn Johannes von allen Evangelisten am klarsten darstellt – eben nicht einfach ein vorbildlicher Mensch, mutiger Prophet oder kluger Philosoph war, sondern das fleischgewordene Wort selbst ist, der «Weg, die Wahrheit und das Leben» (Joh 14,6).

Thomas Zellmeyer

 


«Nimm und lies!» – einige besonders wichtige Stellen aus dem Johannes-Evangelium:

• Der Prolog: Joh 1,1-18
• Die Hochzeit in Kana als Zeichen: Joh 2,1-11
• Jesus und die Ehebrecherin: Joh 8,1-11
• Die Auferweckung des Lazarus: Joh 11,1-44
• Die Fusswaschung: Joh 13,1-20
• Die Johannes-Passion: Joh 18,1-19,30
• Der Auferstandene und Maria Magdalena: Joh 20,11-18

 


Serie zu den vier Evangelien

Die Vielfarbigkeit der frohen Botschaft

Nach den Beiträgen zum Lukas-, Markus- und Matthäusevangelium folgt nun ein Blick auf das Johannesevangelium. Die Serie will einen kleinen Einblick in die spezifische Eigenart der jeweiligen Evangelien geben. Unsere Leitfragen waren: Was ist einem Evangelisten besonders wichtig? Wo werden die Schwerpunkte im Evangelium gesetzt?

Unser Jesus-Bild ist immer ein durch die unterschiedliche Perspektive der Evangelien geprägtes. Es finden sich hier also vier Texte nebeneinander, die sehr unterschiedlich sind, ja sich teilweise sogar widersprechen. Für uns ist das nicht Ausdruck eines Defizites, sondern einer grossen Stärke der biblischen Botschaft. Die Vielfarbigkeit auch der Evangelien ist kein theologischer Mangel, sondern Ausdruck der Weite des christlichen Glaubens.

Wenn wir die vier so unterschiedlichen Evangelien immer wieder neu – und vielleicht auch nebeneinander – lesen, zeigen sich erst diese Vielfalt, Vielfarbigkeit und Fülle der frohen Botschaft.

Liza und Thomas Zellmeyer