«Der Unterschied zwischen Pfarrer und Wirt ist hauchdünn»

Interview mit Pfr. Niklas Raggenbass, Hellikon

Bis 2015 war Niklas Raggenbass (65) Stadtpfarrer von Solothurn. Weil er sich verliebte, bat er Papst Franziskus, ihn aus dem Klerikerstatus zu entlassen. Heute ist er Wirt in Hohenrain und wieder Priester – bei der Christkatholischen Kirche.

Roger Rüegger: Knüpfen wir dort an, wo wir unser Gespräch 2016 beendeten. Sie warteten auf eine Antwort des Papstes.

Er entliess mich. Von dem Moment an war es mir auch möglich, mich aus dem Kloster Engelberg zu verabschieden. Meine Verpflichtung als Benediktinermönch wurde mit meiner Unterschrift aufgelöst.

Wie war die Demission?

Bevor ich meinen Wohnsitz mit Maria Leu in Hohenrain bezog, begab ich mich auf eine dreimonatige Auszeit ins Kloster Münsterschwarzach (D). Ich wollte noch einmal überlegen, welches mein Weg sein wird. Im Wissen, dass eine kirchenrechtliche Strafe folgen würde, sollte ich mich für Engelberg entscheiden. Denn ich war schuldig und bin es noch. Ich verstosse gegen den Zölibat, den ich als Mönch und als römisch-katholischer Priester versprochen habe.

Hilft da keine Beichte?

Dieselbe Frage stellte ich auch. Bleibt die Schuld, wenn ich beichte? Der Bischof bestätigte mir, dass ich weder Segen noch Kommunion in einer römisch-katholischen Kirche mehr austeilen darf. Mir wurden sämtliche Dienste untersagt.

Der Kirche blieben Sie treu?

Vorerst. Mit dem Brief des Papstes wurde ich zurückversetzt in den Laienstand. Ich war nicht mehr bei der Kirche angestellt und hatte nun die Möglichkeit, auch aus dem Kloster formell auszutreten. Ich meldete mich beim RAV und wurde auch von dieser Stelle als schuldhaft entlassen eingestuft.

Also hatten Sie kein Einkommen?

Richtig. Ich konnte aber glücklicherweise auf Hilfe von diversen Leuten zählen. Der ehemalige Zirkuspfarrer Ernst Heller rief sofort an. Er unterstützte mich sehr.

Danach bauten Sie und Maria Leu sich mit dem Gasthaus Leuenstern in Unterebersol ein neues Leben auf. Seit 2017 sind Sie Wirt. Ich traue mich nicht zu fragen … Wie läuft’s?

Niklas Raggenbass
im Element. Bild: ©
Manuela Jans-Koch /
Luzerner Zeitung

Wir machten Probeläufe und merkten, dass Spezialitäten und Privatanlässe sehr gefragt sind. Die Produkte aus der Nachbarschaft, die wir nur nebenbei anbieten wollten, laufen gut. Die Weine und vor allem der Kuchen unserer Nachbarin, die uns auch in Küche und Service unterstützt. Durch Mundpropaganda finden viele Leute und Gruppen zu uns.

Was sich wohl relativiert hat?

Es lief bis vor einem Jahr sehr gut. Seit Januar 2020 mussten wir wegen Corona über 100 Anlässe absagen. Wenn die Medien melden, dass die Infektionszahlen steigen, kommen merklich weniger Gäste.

Wie war der Lockdown?

Im Übel ergibt sich immer auch Gutes. So liessen wir bei der benachbarten Distillerie Seetal aus 400 Litern abgelaufenem Bier – durch Corona blieb es liegen – einen hervorragenden Brand herstellen. Ebenso brachten die Gäste mehr Zeit mit, wollten das Essen geniessen und wählten besondere Menus aus.

Sie sind geboren als Prediger. In einem früheren Gespräch sagten Sie, es gebe keinen Unterschied zwischen Pfarrer und Wirt …

Den gibt es gar nicht. Schon früher und im Pfarrhaus in Solothurn hatte ich stets Gäste. Es suchte immer jemand Hilfe oder ein Quartier. Ich genoss es, ein Dreh- und Angelpunkt sein zu dürfen für Menschen in besonderen Lebenssituationen. Die Pfarrei war immer offen. Als Gastgeber habe ich eine ähnliche Rolle. Man darf in einer Beiz viele seelsorgerische Aufgaben wahrnehmen. Corona fordert uns heraus in all unserer Verletzlichkeit und Zerbrechlichkeit.

Wie helfen Sie?

Indem wir zum Beispiel Spenden sammeln für Leute, die durch Corona stark betroffen sind. Etwa für eine Mutter von drei Kindern, die rasch drei Computer für die Schule benötigte. Auch laden wir Leute zum Essen ein, die dafür kein Geld haben.

Nun sind Sie wieder Pfarrer. Aber in der Christkatholischen Kirche. Wie kam’s?

Das ergab sich, als uns eine Gruppe von 40 Leuten besuchte. Sie wollten ein Programm mit Alphornbläser, Essen, Besichtigung der Brennerei und so weiter. Dabei war ein Ehepaar mit einem Hund. Der bewegte sich frei auf dem Gelände. Leider gelangte er auf die Strasse, als ein Sattelschlepper herannahte.

Sagen Sie’s nicht!

Ein Drama. Wir reagierten spontan. Ich dachte, es gibt nur eines: eine Beerdigung. Männer hoben ein Grab aus, das Alphorn spielte, ein altes Kreuz aus der Garage beschrifteten wir mit dem Namen des Tieres. Das Paar weinte, aber es war für sie Trost. Ein römisch-katholischer, ein christkatholischer und zwei reformierte Priester waren da. Wir zelebrierten eine richtig schöne Beerdigung für Filou.

Durch eine «Hundsverlochete» wurden Sie wieder Pfarrer?

Eine Frau erwähnte den Ausdruck tatsächlich. So salopp es klingt, es passte in dem Moment. Da fragte mich der christkatholische Pfarrer Wolfgang Kunicki aus Baden, warum ich nicht der Christkatholischen Kirche beitrete. Das war die Stichfrage. Von da entwickelte es sich. Ich trat aus der Römisch-katholischen Kirche aus.

Wieder ein Brief mit gewichtigem Inhalt?

Ja, der war hart. Man könnte sagen, das war’s, es stimmt auch formell. Aber vom Verabschieden her war es schwierig. Eine weitere Liste, die mich ausschloss. Wie jene vom Papst.

Was ist nun anders?

Die Christkatholische Kirche richtet sich nicht nach dem Papst. Bischof und Synodalrat gaben mir die Zulassung zu priesterlichen Diensten, womit ich offiziell in die christkatholische Geistlichkeit aufgenommen wurde, wozu Priester und Priesterinnen ohne jeden Unterschied gehören und auch verheiratet, geschieden oder in Partnerschaft lebend sein dürfen. Katholisch und weltoffen. Es ist eine Form der Versöhnung.

Trotzdem fühlen Sie sich noch schuldig?

Das Gefühl ist noch da. Manchmal denke ich beispielsweise an die Zeit in Solothurn zurück. Es war schön, dort Pfarrer zu sein. Ja, die Schuld tritt manchmal noch hervor, doch sie löst sich langsam. Das merkt meine Partnerin auch. Wissen Sie, für viele Leute war sie die Schuldige, was wirklich nicht der Fall ist.

Sind Sie als Pfarrer in der Kirchgemeinde Wegenstetten, Hellikon, Zuzgen und Zeiningen zu Hause angekommen?

Ja und es gab gleich zu Beginn eine bemerkenswerte Begebenheit. Am Bettag war ein ökumenischer Gottesdienst in einer römisch-katholischen Kirche im Wegenstettertal vorgesehen. Reformiert, römisch-katholisch, christkatholisch. Kurz vorher erkrankte der römisch-katholische Pfarrer an Corona und auch die reformierte Pfarrerin hatte gesundheitliche Probleme.

Worauf Sie den Gottesdienst leiteten?

Ich dachte, das kann doch nicht wahr sein. So viele Päpste und Konzile und die Vatikanischen Konzile schafften es nicht, aber Corona macht es möglich, dass unsere drei Konfessionen noch enger zusammenrücken. Ich zelebrierte einen Gottesdienst mit allem, was ich für richtig empfand, und sprach den Segen. Die Kirche war gut besucht und zum Schluss rief der älteste Wegenstetter, er ist 103 Jahre alt, «bravo» – und die Leute applaudierten. Nach dem Gottesdienst lud der Dorfälteste alle zum Apéro ins «Rössli» in Zuzgen ein. Ich empfand dies als Auftrag, mehr ökumenisch zu arbeiten. Die Pandemie hat nicht nur dunkle, sondern auch lichtvolle Seiten.

Roger Rüegger