Die Wunden bleiben in unseren Körpern

Elisabetta Tisi berichtet über die prekäre Situation in Mailand – und über ihre Seelsorge

Soldaten in der Innenstadt von Mailand

Die Wunden bleiben für lange Zeit in unseren Körpern, rufen instinktive Antworten hervor. 2001 habe ich am Protest gegen G8 in Genua teilgenommen, gemeinsam mit den christlichen Vereinigungen und dem gerechten Handel, solidarisch mit den Spielen und Aufführungen. Trotzdem haben auch wir die unglaubliche Gewalt durch die Angriffe der Polizei während zwei langen Tagen erlitten. In der Folge konnte ich während langer Zeit den Lärm eines Helikopters nicht mehr ertragen, was in mir sofort eine Attacke von Todesangst auslöste.

Auch jetzt hier in der Lombardei findet ein traumatisches Ereignis für die Bevölkerung statt. Den einzigen Ton, welchen wir hören in dieser seltsamen Ruhe in Mailand, ist der Ton der Sirenen. Und wenn man diesen «Schrei» hört, hält man den Atem an, man wartet, ob er im Quartier anhält, man sorgt sich sofort um die Nachbarn, um alle Leute des Ortes, welche man kennt. Entfernt sich die Sirene jedoch, dann fühlt man sich doch etwas schuldig, stösst einen erleichternden Seufzer aus und begleitet in Gedanken und im Gebet diejenigen Personen, welche sich gerade in grösster Schwierigkeit befinden.

Hier ist die Situation ausser Kontrolle. Nicht in Italien, nur in der Lombardei. Der Smog, die privaten Gesundheitswesen, welche die Anzahl der Infizierten verheimlichten, vor allem in den Altersheimen, um diese nicht schliessen zu müssen und Neueintritte zu verlieren. Die Existenz, der ökonomische Motor der Nation mit zahlreichen Industrien und Aktivitäten, welches unvorstellbar schien zu schliessen, all dies hat zu diesem Desaster geführt, welches wir jetzt erleben. Glücklicherweise werden die Regeln akzeptiert und die Solidarität zwischen den Familien wächst. Einkaufen gehen heisst: eine Stunde warten, um einen Supermarkt zu betreten. Aus diesem Grund gehen wir abwechslungsweise (es kann nur eine Person pro Familie gehen) und wir tätigen die Einkäufe für mehrere Familien, für Einzelpersonen, sowie für ein junges Ehepaar mit einem kleinen Mädchen.

Die Schuhe und die Kleider, welche wir dabei tragen, kommen nicht ins Haus, wir müssen Schutzmasken und Schutzhandschuhe tragen, wenn wir den Lift im Haus benutzen wollen oder einen Laden betreten, immer nur eine Person zur selben Zeit. Mit dieser Quarantäne in Italien gab es sofort eine Steigerung der Messen der römisch-katholischen Kirche online nur für Priester und sofort ist die Diskussion zwischen Theologen verschiedener Konfessionen ausgebrochen über die offensichtlich klerikale Auffassung der Kirche. So schätze ich und auch andere Theologen die Aussage unseres Bischofs und seine Worte: «Mich dünkt es wichtig, die gegenwärtigen Einschränkungen bewusst zu erleben.»

Das soll aber nicht heissen, dass die Gemeinde im Tessin vergessen wird. Aufgrund persönlicher Sicherheit, wissend, dass ich ältere Leute sowie Leute mit einem schwachen Immunsystem treffe während meiner Arbeit, befand ich mich seit Mitte Februar in freiwilliger Isolation. Anfang März bin ich in die Schweiz gereist, um die Zeitschrift unserer Gemeinde zu verteilen. Jedem Umschlag habe ich eine persönliche Nachricht beigelegt, wo ich die Leute einzeln grüsse, bewusst, dass wir uns für längere Zeit nicht mehr sehen können. Am folgenden Tag wurde die Lombardei gesperrt. Glücklicherweise, seit ich in der Diaspora im Tessin arbeite, haben wir auf Whatsapp einen Chat installiert, in welchem 20 Personen verbunden sind und Dank dessen wir uns ermutigen, uns Fotos, Gedanken, Gesundheitsinformationen zu kommen lassen können. Wir haben so die Möglichkeit uns noch als eine Gemeinschaft zu fühlen und uns füreinander zu interessieren. Während ich diesen Artikel schreibe, hat eine Person per Chat informiert, dass sie mit jemandem telefoniert hat, welchem es gut gehe. Auf diese Art und Weise sind wir vielleicht enger verbunden als vorher, aufmerksamer einander gegenüber. Mittels der Fotos mit den Grüssen sagen wir uns: es ist wichtig, dass es dich gibt. Und es ist schön. Unsere Liebe überwindet die Distanzen.

Soldat vor dem Mailänder Dom

Jeden Sonntag schicke ich meine Gedanken per Sprachnachricht auf diesen Chat und sende sie via E-mail (audio und Texte) auch an andere Familien. Ich weiss von einer Tochter, welche die Mutter ans Telefon ruft, um diese Gedanken zum Sonntag hören zu können. Ich habe mich für die Sprachnachricht und gegen das Video entschieden. Ein Video verlangt Atmosphäre, gutes Licht, korrektes Bild, Farben und ist somit sehr aufwendig. Die Sprachnachricht ist unmittelbar, ohne Filter, nur der Ton der Stimme. Ich rufe die Menschen per Telefon an, auch solche, welche nicht bei unserer Gemeinde eingeschrieben sind, aber älter und zu Hause isoliert sind. Nicht die formelle Einschreibung in unserer Gemeinde zählt in diesem Moment.

Wir führen das wöchentliche Bibelstudium per Skype fort, beten gemeinsam jeweils Donnerstagabend und um 20 Uhr zünden wir draussen eine Kerze an. Es ist uns auch gelungen, den Katechismus auf Distanz durchzuführen für die junge Sarah immer mit Videoaufrufen. Es gibt Leute, die sich bereit erklärten die Menschen über 65 zu Hause zu versorgen, sich um die Eltern zu kümmern, welche in der Nähe wohnen, Leuten Essen anzubieten, die nicht so viel haben, Kerzen anzuzünden für diejenigen, welche nicht raus können und wir vereinen uns im Gebet… Die kleine Gemeinde im Tessin existiert, sie lebt und nähert sich gegenseitig an, mehr als je zuvor.

In diesem Moment ist Mekka leer, der Petersplatz und auch die Stätten in Jerusalem. Aber die Kirche lebt, das Gebet kehrt in die Häuser zurück, bittend für die eigene Familie, für die Freunde, für diejenigen, welche es nicht geschafft haben und auch für diejenigen, welche für uns alle arbeiten mit dem Risiko sich mit dem Virus anzustecken. Man betet zu Hause für das eigene Land, für die Wirtschaft, für die eigene Firma oder die Arbeitnehmer, hoffend darauf, bald wieder anfangen zu können und die Kraft zu haben, um allen Arbeit zu geben… Die Kirche ist nun in unseren Häusern.
Aus diesem Grunde empfehle ich unserer Gemeinde für Gründonnerstag, sich gegenseitig die Füsse zu waschen in der Familie, für Karfreitag eine Ecke mit einem Kreuz und einem Licht zum Beten ein-zurichten, einen Tag des Schweigens am Karsamstag einzuhalten und für Ostern werde ich ein Video schicken mit einer Segnung und Grüssen.

Für uns wird Ostern der erste Sonntag sein, wo wir wieder frei in den Tassino-Park in Lugano gehen können, um gemeinsam den Sonnenaufgang zu erleben und die Osterkerze anzuzünden. Ich glaube, dass wir an diesem besonderen Tag vor Freude weinen werden.

Elisabette Tisi, Pfarrerin Tessin
Übersetzung: Evelyn Alvarado