Eine Weihnachtsgeschichte von Hermann Schneider

Das Licht am Teich

Eine Stunde vor Mitternacht war Heinrich Boser am Weiler Zoll abgelöst worden. Nichts drängte zu Eile: Keine Kinder warteten auf eine späte Weihnachtsbescherung. Er und seine Frau verzichteten dieses Jahr sogar auf ein Bäumchen. Alles war zu traurig. Alles, das hiess: Die Frau lag unheilbar: Sie wusste es, seit sie aus dem Spital heimgebracht worden; er wusste es. – Weihnachtsfreude? Weihnachtshoffnung? Heinrich Boser hätte die Mandarine samt dem halb heruntergebrannten Kerzlein, die ihm ein regelmässig über die Grenze fahrender Automobilist mit guten Wünschen überreicht hatte, auf dem Fenstersims des Schutzhäuschens stehen lassen, wäre sie ihm nicht vom ab­lösenden Kollegen – bei ausgeblasenem Lichtlein – zugesteckt worden.

Heinrich Boser tappte auf der breiten, leeren Strasse tramwärts. Gleich jenseits der Lörracherstrasse wohnte er. Bis dorthin kam er wohl kaum an einem Haus vorbei, wo noch die Kerzen eines Weihnachtsbaums brannten. Gut so! Aber jetzt, dort vorne rechterhand beim alten Waschhäuschen, das weithin am Mühleteich steht, obgleich längst niemand mehr Linnen und anderes auf den gegen das Wasser geneigten Brettern seift und schlägt; dort ein Licht? In diesem aus alten Tagen als Merkwürdigkeit stehengelassenen Hüttlein stellten die Gemeindearbeiter etwa Schaufeln, Besen oder einen Schubkarren ein. Also Täuschung, der schwache Schein, der zwischen Dachrand und Steinmauer hervordrang? Heinrich Boser schwenkte vom Trottoir ab aufs Weglein, das teichwärts führte. Obacht! Der spärliche Schnee war geschmolzen; Pfützen hatte sich gebildet. Noch drei Schritte und er sah um die Hausecke: einen deutlichen Streifen Licht, wo die Türe offenbar nur angelehnt war.

Auf ein paar Grasbüscheln fasst er Stand. Straffte mit kräftigem Ruck den Uniformrock unterm Mantel. Heilige Nacht und trotzdem Diebsgesindel, vielleicht Schmuggler, jedenfalls fragwürdiges Volk, das sich die heute menschenleere Gegend zunutze machte? Passte in unsere gottlose Zeit; und war ihm nicht einmal zuwider.; denn indem er gewissermassen dienstlich zum Rechten sah, traten die Gedanken ans eigene Ungemach zurück. Schon riss er an der Tür, ein Befehlswort auf den Lippen. Sie knarrte auf…

Aber er rief kein «Ergebt euch!» oder sonst eine Einschüchterung in das von einer Laterne erhellte Gemäuer. Er hielt wie verdonnert von dem Anblick, der sich ihm bot. Nicht der Mann war’s, dem er sich gegenüber sah, sondern die Frau nebenan, bei ihr ein Schubkarren, darein wohl irgendein Kleidungstück gelegt, auf dieses, soweit sich’s erkennen liess, ein kleines Kind. Doch der Mann verlang

te zunächst alle Aufmerksamkeit. Er hob die Hände und begann, in einem Kannitverstan zu reden. Heinrich Bosers Hand spürte in der Manteltasche die Mandarine; kalt fühlte sich das Kerzchen an. Auf den Polizeiposten berichten und für ihn war die Sache erledigt! Seine Frau wartete daheim.

Und die Frau hier? Mühte sich, ein paar fassliche Wörter zusammenzubringen. Der Herr möge sie in Frieden lassen. Morgen schon wollten sie weiterziehen. Ihre Augen redeten verständlicher als ihr Mund. Und das Kind im Schubkarren, über dem das spärliche Laternenlicht hing! Trotzdem war’s ein unstatthafter Grenzübertritt. Diese Leute wussten bestimmt, dass von einem Land zum andern… ja, das war bei Menschen nicht so einfach wie bei Bächen und Teichen. Lebte er, Heinrich Boser, nicht von dieser Unmöglichkeit? Sie verschaffte ihm sein Auskommen.

Die Frau hatte dem Mann einen Becher hingestreckt. Er bückte sich zwischen zwei abgefaulten Waschbrettstümpfen zum Teich hinunter, schöpfte Wasser und brachte es ihr. Sie neigte sich damit zum Kind, bis seine Händchen das kleine Gefäss berührten. Sie würde doch nicht! Dieses verschmutzte Wasser! Sie tat’s auch nicht, schickte sich indessen an, es selbst zu trinken! «Halt! Kein Trinkwasser! Sie könnten krank werden davon!» Der Grenzwächter wehrte so heftig ab, als ginge es den besten Freund an oder seine Frau. Nicht wildfremde Leute… wildfremde, denkt es in ihm, wildfremd. – Wildfremd?

Indessen hat die Frau langsam ein paar Schlucke genommen und versucht erneut, sich mit Wortbrocken verständlich zu machen. «Schmeckt gut.» Heinrich Boser redete ruhiger; das Unheil ist ja schon geschehen. «Ein Industriekanal!» sagt er, verzichtet aber auf weitere Hinweise. Zum Kuckuck, weshalb hat er überhaupt den Heimweg unterbrochen? Es wäre an der Zeit, den Fall in Ordnung zu bringen. Zur Polizei, dann endlich den Dienst abschütteln!

Doch die Frau, die den Becher immer noch hält, findet auf einmal richtige Sätze; und sie spricht, datatt dass der Grenzwächter handelt. «Warum sind Sie so kleingläubig in diese Nacht? Können sich nicht vorstellen, dass es Wunder gibt? Trinken Sie auch!» Sie wendet sich zum Mann, der aus dem Teich nachfüllt. Dann geschieht wieder das Hinneigen zum Kind, das den Becher berührt. Und nun ist’s an ihm, Heinrich Boser, ihn abzunehmen und daraus zu trinken. Muss er? Diesen vielleicht lebensgefährlichen Unsinn mitmachen, dem Wohlmeinen unverständiger Leute willfahren? Doch er weiss nicht wie, so ergreift er den Becher… er will, will nicht und spürt den kalten Plastikrand schon an den Lippen, kippt das Ding ein wenig und das Wasser bespült sie. Es ist, als zwänge es sie auseinander. Es dringt auf die Zunge, rinnt darüber – Wasser, Wasser soll das sein? Lauterer Wohlgeschmack ist’s. Wonach? – Doch nicht das verwirrt den Grenzwächter vor allem.

Er erblickt aufs Mal die Frau in einem wunderschön blauen Mantel, rot darunter das Kleid und um den Kopf einen goldenen Schein. Seine Augen, beschenkt mit diesem Unglaublichen, sehen den Mann in langem braunen Gewand stehen, auch einen Schein ums Haupt. Und zwischen beiden nicht einen Schubkarren, vielmehr eine Krippe. Aus Bubenzeiten herauf streicht Heinrich Boser ein feiner Stallduft um die Nase. Sind irgendwo im Schatten Ochs und Esel? Hört man sie schnaufen und ihre Mäuler Heu oder Stroh mahlen? Dieser kindliche Gedanke wird verdängt von einem andern: Heftig kommt’s den also sehend Gewordenen an, hin zu knien, wie es Hirten getan hatten und weise Männer vor bald zweitausend Jahren. Aber so sehr es ihn gepackt hat: Er ist Heinrich Boser geblieben, in der Uniform und in einer Zeit, da man sich vor Überschwenglickeit scheuet. Zudem: Was schenken? Aus dem Portemonnaie ein Geldstück klauben? Etwas wäre eine besondere Gabe, eine, die er sich schwer abringen müsste. Er entschliesst sich dazu, sagt langsam, leise: «Ich will nichts gesehen und ­gehört haben; sie bekämen sonst Schwierigkeiten!»

Die Frau nahm ihm den Becher ab; es war wieder jene, die er sie zuerst erblickt hatte. Sie lächelte und sagte: «Warum nichts gesehen und gehört? War das Wasser gut? Dann nehmen Sie für Ihre kranke Frau einen Becher voll mit.»

Den Grenzer würge die Frage, wieso sie wisse, dass seine Frau krank sei. Während der Mann sich zum Teich hinabbückte, fragte die Wöchnerin: «Sie glauben doch, dass sie krank ist, oder nicht?» Und nahm auch schon den gefüllten Becher entgegen, wendete sich damit zum Kind hinüber, zu den Händchen des Kindes – es lag wieder in einem Schubkarren. Da spürte er, wie die Mandarine in der Manteltasche zwischen seine Finger drängte, und das Kerzchen rollte ihm in den Griff. Er zog beides heraus, steckte es zusammen und hob es hinüber auf den wulstigen Rand des Karrens. Mit dem Feuerzeug entzündete er das Kerzchen.

Die Frau reichte ihm den Becher. «Verschütten Sie nicht zuviel; daheim wird rechte Freude sein über das Wasser!» Er nahm das beinahe volle Plastikding. Sie fügte bei: «Eilen Sie! Und Sie sollen gesehen und gehört haben, was Sie sahen und hörten! Um uns sorgen Sie sich nicht. Woher wir gekommen sind und wohin wir gehen werden, das lassen wir einen anderen bestimmen. Einen andern, nicht andere!»

Sie nickte ihm zu. Es war, als ob ein Vorgesetzter gesprochen hätte. So zwingend traf es ihn. Und er machte kehrt. An dem Mann vorbei, durch die halboffene Tür, aufs Weglein der Waschhausmauer entlang. Aufs Trottoir… und dort erst, dort befiel es ihn wieder, dass er doch einer der Hiesigen sei, diese Strasse sein üblicher Weg. Wunder hier? Wunder, wie er meinte, eben erlebt zu haben? Nicht zuletzt jenes, dass eine Fremde aufs Mal so sicher in seiner Sprache redete! Und der Plastikbecher, den er vor sich hertrug! Ausschütten das Wasser? Denn hätte er’s jemandem erzählt, der des Weges käme… doch da waren keine Schritte zu hören, an diesem Abend und so spät. Höchstens pfurrte ein Auto vorbei. Er ging einsam mit seinem Becher, wollte sich beinah des Erlebten schämen, wie Buben sich nicht gern rühren lassen. Aber wie diese dennoch versteckt zum Muttertag ein paar Blumen besorgten, so wollte der Grenzwächter Heinrich Boser seiner Frau zuliebe den Becher heimbringen.

Sie lag mit Schmerzen wach. «Du kommst lange nicht», sagte sie. Er zeigte ihr den Becher. «Ich hab dafür etwas mitgebracht. Du sollst es trinken, es helfe dir.» Und er berichtete von der seltsamen Begegnung, verschwieg aber, dass das Wasser aus dem Teich stammte. «So etwas wie ein Zigeunertrunk?», argwöhnte die Frau, meinte dann aber: «Da du daran zu glauben scheinst, will ich ihn nehmen. Nützt’s nichts, so wird’s auch nicht schaden.» Sie liess sich im Kissen aufrichten, trank den Becher leer. Draussen begann das Mitternachtsgeläute. «Hörst du?», sagte sie. Und schon befiel sie Müdigkeit; sie schlief ein. Heinrich Boser, auf einem Stuhl neben dem Bett, sah ihr Gesicht sich entspannen, ihre Stirn wurde hell und ruhig. Da legte auch er sich zu Bett.

Der Weihnachtsmorgen aber liess ein Wunder offenbar werden: Heinrich Bosers Frau gesundete. Der Arzt vermochte es nicht zu erklären. Er mass dem keine Bedeutung bei, was der Grenzer erzählte. Dieser ging am Christtag zum alten Waschhaus, um Leinenzeug und Wegzehrung hin zu bringen. Das Vorlegeschloss versperrte die Tür; er beugte sich gegen den Teich, blickte so ins Innere, sah Schaufeln, Besen, einen leeren Schubkarren, dem Wasserlauf entlang die Waschbrettstümpfe. Der Ort war verlassen…

«Das Licht am Teich» aus: Das Wenkenross, Hermann Schneider, Pharos Verlag 1972