Hans Küng, ein noch immer lebendiger Theologe

Persönlicher Nachruf von Prof. em. Dietrich Wiederkehr – eine Spurensuche

Sehr oft bin ich Hans Küng in seinen noch un- und später be-rühmten Zeiten begegnet. Er kam rasch auf dem Duz-Fuss und schnell waren wir bei Themen, die einem auf den Nägeln brannten. Darin waren wir uns ähnlich. Vor allem hat er 1966 als Leiter der Schriftenreihe «Theologische Meditationen» mein erstes kleines Buch herausgegeben. Er verstand es, Marksteine zu setzen. Die Nachricht vom Tod von Hans Küng kam nicht überraschend. Zunehmend an Parkinson erkrankt, sprach Hans Küng kaum mehr öffentlich. Ob er von der von ihm bejahten Exit-Möglichkeit Gebrauch machte, «geht niemand was an!»? Dass das offizielle Rom die ungerechte Verurteilung des verdienten Konzilstheologen nie zurücknahm – auch trotz verschiedener versöhnlicher Gesten von Seiten der Päpste Benedikt XVI. und Papst Franziskus – ist beschämend und zeigt wie unehrlich und unernst die römisch-katholische Hierarchie ihre bussfertigen Deklamationen meint und praktiziert.

«Sie haben mich richtig dargestellt»

Mit einem Paukenschlag trat der damals noch unbekannte Küng an die theologische und ökumenische Öffentlichkeit. Nach Studien an der päpstlichen Universität Gregoriana in Rom und am Institut Catholique in Paris, die beides angesehene und prominent besetzte Jesuitenfakultäten sind. Küng stellte kritisch vergleichend die Rechtfertigungslehre von Karl Barth (1886-1968) in Basel, damals noch aktiv dozierend und publizierend, der Rechtfertigungslehre des Konzils von Trient (1545-53) gegenüber. Rechtfertigung bedeutet die Vergebung der Sünden nicht aufgrund von Werken, sondern aus Gnade. So gründlich wie in dieser seiner Dissertation hat Hans Küng in der Folgezeit seiner sich häufenden öffentlichen Publikationen wohl nie mehr gearbeitet – ausser in der Quellenforschung betreffend der päpstlichen Unfehlbarkeit.

Ausgerechnet die lateinischen und noch gehörig scholastischen und lehramtlichen Texte des Konzils von Trient hat Küng gründlichst und akkuratest analysiert. Mit einer spürbar und ausdrücklich positiven Tendenz verglich er die Texte von Trient und die Kirchliche Dogmatik von Karl Barth – hinweg über den «garstigen Graben der Geschichte» (Ephraim Lessing) von 400 Jahren. Er stellte zum eigenen und denn auch zum öffentlichen Staunen ihre Übereinstimmung fest. Das hat ihm Karl Barth denn auch in einem persönlichen Brief attestiert, der wirksam dem Buch vorangestellt wurde, in dem es heisst: «Sie haben mich richtig dargestellt!» Das – wie damals noch üblich – sehr schön gemachte und gebundene Buch erschien im Johannesverlag in Einsiedeln. Dies auch dank der persönlichen Befürwortung durch dessen Leiter, Hans Urs von Balthasar (1905-1988), später gewiss kein Sympathisant des Autors.

Eine fast verbotene Tür

Mit seinen ersten Büchern machte Küng zeit- und kairos-bezogen auf das von der römisch-katholischen Kirche angebahnte Zweite Vatikanische Konzil (1962-1965) aufmerksam. Und er scheute nicht davor zurück, vor allem auf kirchliche, zumal innerkirchliche Problemfelder aufmerksam zu machen. In der Reihe «Quaestiones Disputatae» war es das Thema «Konzil und Unfehlbarkeit», in einer Monographie das grosse Thema «Die Kirche». Eine fast verbotene Tür stiess er mit dem Buch «Unfehlbar – eine Anfrage» auf. Um nicht ausschliesslich und einseitig in diese Tür eingeklemmt zu werden, erschienen dann Bücher zu zentralen Themen des christlichen Glaubens wie etwa «Existiert Gott?». Die Person Jesu Christi wurde – gut biblisch! – innerhalb seines persönlichen und unseres gemeinsamen Gottesverhältnisses situiert. Einen kurzen und in der Diskussion kaum auf- (und ernst-) genommenen Abstecher macht Küng auch ins Werk und Denken seines berühmten Tübinger Kollegen und Philosophen Georg Friedrich Hegel (1770-1831): «Menschwerdung Gottes, eine Einführung in Hegels theologisches Denken als Prolegomena zu einer künftigen Christologie».

Verständigung unter den Weltreligionen

Geburtshaus von Hans Küng in Sursee

Nachdem ihm die römische Glaubenskongregation die von ihm aufgestossene lehramtliche Türe zugeschletzt hatte, verlegte sich Hans Küng mehr ins weitere In- und Aus- und Umland der Theologie, auf die für den Weltfrieden unerlässliche Voraussetzung, die Verständigung unter den sich bisher weitgehend ignorierenden, verkennenden und oft bekriegenden Weltreligionen, für die er auch ein «Weltethos» postulierte, das zum griffigen Zauberwort wurde. Dabei verblieb Küng allerdings meist in einer allgemeinen individuellen oder globalen und universalen Ethik. Vielleicht brauchte es solch ein «Weltethos», das er zunächst in grossen Pinselstrichen zeichnete, weil es für viele noch fremd war.

Sein römisch-katholischer Kollege und Fundamentaltheologe aus Münster Johann Baptist Metz (1928-2019) forderte programmatisch und postulatorisch eine politische Ethik und Theologie. Dies blieb Küng, dem gutbürgerlichen und gebürtigen Surseeer, schonend und auch sich selbst schonend ein unbebauter Acker. Anders als für die in Europa virulente feministische Theologie hat Küng territorial und gar theologisch und öffentlich-engagiert Stellung nehmend in diese Region keine Flugreise- und Besuchs-Diplomatie gepflegt. Weniger die Graspisten der Lateinamerikanischen Befreiungstheologie und die Favelas von Sao Paolo und Recife waren ihm ein Ziel als vielmehr das marmornene Forum der UNO in Nordamerika, das war schon wichtiger und prominenter. Küng hatte – zugegeben –einen frühen Riecher für weltöffentliche und nicht nur zunft-theologische Resonanz. Dass er publik von vielen, stillen, gründlichen (auch von ihm verschwiegenen) Kärrnern und Zulieferern zehrte, sei es in Bibelwissenschaft, Geschichte oder Pastoral, behielt und beliess Küng im Hintergrund der aufgebauten Mikrophone.

Theologische Universitäts-Fakultäten sind «Gockel-Hühnerhöfe»

In der abendlichen Tagesschau des Schweizer Fernsehens am 6. April würdigte der Theologe Norbert Bischofsberger die Leistung und das Werk von Hans Küng. Er verschwieg aber nicht seine Eitelkeit, wenn er etwa von seinen Vortragsreisen und Prominentenbegegnungen erzählte. Sein «Namedropping» (häufig einen prominenten Namen erwähnen) war oft penetrant. Er erzählte, wen er alles getroffen hatte: Den UNO-Generalsekretär Kofi Annan, den Dalai Lama und andere Religionsführer, Künstler, Kulturschaffende und so weiter. Seine Memoirenbände haben diesbezüglich auch wohlgesinnte Leserinnen und Leser etwas verstimmt.

Informationstafel am Gasthaus zur Krone, das eine reiche Vergangenheit besitzt.

In seiner angestammten fachtheologischen Gesellschaft der Dogmatiker und Fundamentaltheologen hatte er in früheren Jahren auch als Tagungsreferent viele gutgesinnte Kollegen. Im «Quadrat der zunehmenden Entfremdung“ in die theologische Aussenpolitik war „zunftintern» eine gegenseitige und auch beidseitige Abkühlung spürbar. Das hatte zu tun mit seiner zunehmend lockeren und abnehmend weniger gründlichen Arbeitsmethode. Kritik in diese öffentlich wenig beachteten Innenräume des Faches überspielte Hans Küng mit der von ihm erlebten weltweiten Aufmerksamkeit auf seinen aussentheologischen Foren. Natürlich sind – wie alle Professorengremien – auch theologische Universitätsfakultäten «Gockel-Hühnerhöfe»!

Sein Leben war eine fortwährende «Spurensuche» – nicht zufällig hiess so eine 7-teilige Fernsehreportage zu Beginn der 90er-Jahre in der ARD, die er moderierte. Hans Küng können wir dankbar sein für den Mut und die schier unermüdliche Kraft, Visionen sichtbar zu machen, Grenzen zu überschreiten, um anderen den Horizont zu erweitern, damit sie das eigene Herz schlagen hören können. Damit schliesst mein persönlicher Nekrolog dieses immer noch lebendigen und nach wie vor zu hörenden katholischen Theologen.

Dietrich Wiederkehr


Zum Autor

Prof. em. Dietrich Wiederkehr

Dietrich Wiederkehr: «Ein kapuzinischer Frechdachs»

Dietrich Wiederkehr wurde 1933 in Rudolfsstetten im Kanton Aargau geboren. Mit zwanzig Jahren wurde er Kapuziner. 1962 schrieb er seine Dissertation «Die Theologie der Berufung in den Paulusbriefen». Ende der 1960er-Jahre wurde Wiederkehr durch eine bahnbrechende Arbeit bekannt, die er im theologischen Standardwerk «Mysterium Salutis» über die Christologie veröffentlichte. Er trug damit einen gewichtigen Teil zum Grundgerüst einer neuen Theologie bei. Er war Professor zunächst an der Ordenshochschule in Solothurn (1963-1972), dann an der Universität Freiburg im Üechtland (1968-1974) und Luzern (1974-1997) in den Fächern Dogmatik und Fundamentaltheologie. 1986-1988 war er Rektor der theologischen Fakultät Luzern.

Es ist höchst erstaunlich, so schreibt Fulbert Steffensky, wie nahe der 87-jährige dem Leben von heute ist und nie entsteht der Eindruck, der „alte weise Mann“ kenne sich im Jetzt nicht mehr aus. Augenschmunzelnd schreibt er über seinen Freund: «Dietrich ist ein frommer, freier, bockiger, barmherziger Schweizer Frechdachs» (Fragmente der Hoffnung, 2009). Unvergessen seine Vorlesungen in Luzern, wenn er uns Studierenden beibrachte, die Texte gut zu lesen und abzuklopfen, wenn es etwa um das Frauenpriestertum ging; wenn es etwa heisse, man müsse sich das «gut überlegen». Schon seit Jahrzehnten, sagte er, sei das Thema auf dem Tisch. Man will damit nur verklausuliert zum Ausdruck bringen: «Wir wollen nichts ändern!» Dietrich Wiederkehr hatte einen Ruf als Dogmatikprofessor an die Ludwig-Maximilians-Universität München, dies nachdem er ein paar Jahre vorher vom damaligen Erzbischof Joseph Ratzinger abgelehnt wurde. Als ich von Luzern aus in München weiter studierte, schrieb er mir: «Ich wäre dort vielleicht der berühmte Professor Wiederkehr geworden. Ich zog vor Bruder Dietrich zu bleiben!»

Beide Professoren, Küng und Wiederkehr, haben uns durch ihre Bodenständigkeit und herausfordernde Nähe zu uns heranwachsenden Theologinnen und Theologen nachhaltig geprägt. Auf die Frage, ob er uns mit einem Nachruf auf seinen langjährigen Kollegen und Weggefährten Hans Küng einen Denkanstoss schreiben könnte, kam dieser persönliche Brief in unbestechlicher und direkter Offenheit.

Niklas Raggenbass