Hirtenbrief zur Fastenzeit 2020 von Bischof Harald Rein

150 Jahre Erstes Vatikanisches Konzil

«Sie aber hielten fest an der Lehre der Apostel und an der Gemeinschaft, am Brechen des Brotes und am Gebet.» (Apostelgeschichte 2,42; Zürcher Bibel 2007)

Liebe Schwestern und Brüder

ARCHIV – Schwarzweiß-Bild des Ersten Vatikanischen Konzils auf dem Petersplatz im Vatikan. (Aufnahmedatum unbekannt) Foto: Ernst Herb/KNA

Am 8.  Dezember 1869 begann nach längerer Vorbereitung das Erste Vatikanische Konzil in Rom. Am
20.  Oktober 1870 vertagte es Papst Pius IX. auf unbestimmte Zeit, nachdem italienische Truppen am 22.  September 1870 den Kirchenstaat besetzt hatten. Aber bereits im Sommer 1870, nämlich am 18.  Juli, waren die beiden Beschlüsse (Unfehlbarkeitsdogma und Jurisdiktionsprimat) gefasst worden, die zur altkatholischen Bewegung und später zum Schisma führten. Sie wurden von der Konzilsmehrheit so begründet:

  • Petrus hat den Vorrang vor allen Aposteln, weil Jesus Christus ihm den Rechtsprimat über die ganze Kirche verlieh.
  • Dieser göttlich gegebene Rechtsprimat des Petrus lebt in seinen Nachfolgern fort, den Bischöfen von Rom.
  • Folglich besitzt der Papst die bischöfliche Universaljurisdiktion über die ganze Kirche und ernennt die Bischöfe für die Teilkirchen.
  • Auch kann der Papst aufgrund dieser göttlich gegebenen Amtsfülle in Glaubens- und Sittenfragen unfehlbar sprechen, wenn er seine Aussagen ausdrücklich als unfehlbar erklärt (ex cathedra).

Dagegen formierte sich Widerstand – vor allem in den deutschsprachigen Ländern – und führte zur Gründung altkatholischer Kirchen, die sich 1889 mit der noch älteren altkatholischen Kirche in den Niederlanden zur Utrechter Union zusammenschlossen. Sie waren von Anfang an eine Minderheit und blieben es. Die Beschlüsse des Ersten Vatikanischen Konzils sind nach wie vor aktuell, sowohl innerkatholisch als auch grundsätzlich. Meines Erachtens kann man sie als eine Antwort auf die drei Fragen verstehen:

Wie bleibt die Kirche in der Wahrheit? Wer entscheidet? Nach welchen Kriterien?


Bedeutsam ist dabei, dass sich sowohl die Mehrheit als auch die Minderheit der Bischöfe und der Konzilstheologen auf die Bibel (Schriftprinzip) und die Tradition beriefen. Daraus wird deutlich, dass sich die Frage nach der Wahrheit nicht durch identische Kriterien allein lösen lässt, sondern dass eine Antwort auch damit zusammenhängt, wer wie und wann in welchem Kontext entscheidet und wie Beschlüsse rezipiert.

Wie bleibt die Kirche in der Wahrheit?

Vor dem Ersten Vatikanischen Konzil befand sich die Welt in einer grossen Umbruchsituation. Die neu entstandenen demokratischen Nationalstaaten stellten den Kirchenstaat in Frage und bekämpften das Monopol der Kirche über das Zivilstandswesen. Hinzu kamen neue Erkenntnisse der Wissenschaft, wie z. B. die Evolutionslehre. Daher war das eigentliche Thema «Glaube und moderne Welt». Die damit verbundene Identitätskrise der Kirche führte zu unterschiedlichen Antworten bei ihren konservativen (ich gebrauche hier bewusst nicht den Begriff ultramontan) und ihren liberalen Mitgliedern. Den Konservativen ging es um die Bewahrung der Kirche und ihre Abgrenzung gegen die Irrlehren der Moderne. Den Liberalen ging es darum, die Moderne in den christlichen Glauben zu integrieren und die Kirche dadurch zu erneuern. Auch wenn niemand eine Deutungshoheit über seine Biografie hat, greift die heutige Geschichtswissenschaft zu kurz, wenn sie im Kontext des schweizerischen Kulturkampfes nur von einer Integrations- und Modernisierungskrise der katholischen Kirche spricht.

In einer solchen Umbruchsituation stellen sich vor allem Glaubensfragen: Wo und wie kommt es für die Kirche zu verbindlichen Beschlüssen, die ihr als Glaubensgemeinschaft weiterhin Identität und Kontinuität verleihen? Wie bleibt die Kirche dabei in der Wahrheit und damit sich selbst und Gott treu?

Die Unfehlbarkeit des Papstes in fundamentalen Fragen des Glaubens und der Sitte ist eine mögliche Antwort, eine andere ist das bischöflich-synodale Modell der Alten Kirche, auf das sich die alt-katholische Bewegung beruft. Denn die buchstabengetreue Orientierung an der Bibel und an der Tradition führt bei der Wanderung der Kirche durch die Welt bis zum Jüngsten Tag nicht immer zu unbestrittenen Folgerungen. Auch wer von der Überlieferung lebt, muss sich den Herausforderungen der Zeit mit Hilfe des Heiligen Geistes stellen. Wie geht man mit Fragestellungen um, die die biblische Lebenssituation gar nicht kannte (z. B. die Gleichberechtigung der Geschlechter und der Klimaschutz) oder unterschiedlich deutete (z. B. Formen der Familie und der Sexualität)? Wer Wahrheit so versteht, dass Entscheide in der Kirche Bisheriges prinzipiell nicht verändern dürfen, sondern lediglich nuancenhaft differenzieren, kann sich nur schwer weiterentwickeln. Wir können bei Veränderungen nicht immer das Bisherige mit dem Neuen versöhnen und in logischen Einklang bringen. Korrektur ist möglich! Wichtiger ist, wie es zu Entscheidungen kommt bzw. wer entscheidet. Und die Antwort ist biblisch und altkirchlich: Betet und entscheidet gemeinsam. Darin zeigt sich der Heilige Geist Gottes und der Segen Gottes, wie er in der Apostelgeschichte bezeugt wird.

Wer entscheidet? Nach welchen Kriterien?

Tatsache ist leider, dass die Fragen «Wie bleibt die Kirche in der Wahrheit?» und «Wer entscheidet?» zu unterschiedlichen Antworten und Kirchenspaltungen geführt haben. Nach dem altkatholischen Theologen und Schweizer Bischof Urs Küry lässt sich die Ökumene im Hinblick auf die Wahrheits- und Entscheidungsfrage in drei Gruppen einteilen: das römisch-katholische Modell, das reformatorische Modell und das altkirchliche Modell.

Unter dem römisch-katholischen Modell versteht er die römisch-katholische Weltkirche, die im Hinblick auf das Papsttum monarchisch und zentralistisch organisiert ist. Unter dem reformatorischen Modell versteht er die direkt aus der Reformation hervorgegangenen Kirchen (z. B. Lutheraner, Reformierte) und die aus diesen entstandenen Freikirchen (z. B. Mennoniten, Baptisten, Presbyterianer). Sie sind seiner Auffassung nach demokratisch und föderalistisch verfasst. Dem altkirchlichen Modell rechnet er die Orthodoxen, die Altkatholiken und die Anglikaner zu. Diese sind für ihn bischöflich-synodal.
Im römisch-katholischen Modell entscheidet der Papst als der Nachfolger von Petrus. Für den reformatorischen Block ist die Richtschnur aller Entscheide die Bibel bzw. das Schriftprinzip. Alles, was der biblischen Überlieferung nicht widerspricht, ist erlaubt. Bischöflich-synodal bedeutet, dass auf nationaler Ebene bzw. in jeder Ortskirche ein «Gleichgewicht» zwischen dem Bischof und der Nationalsynode besteht. Dabei entscheidet in Fragen des Brauchtums die Mehrheit. In wichtigen Glaubensfragen aber ist eine Konsenslösung zwischen Bischof und der Nationalsynode anzustreben, sowohl innerhalb des Bistums wie auch mit den anderen Ortskirchen bzw. Bischöfen, mit denen man in kirchlicher Gemeinschaft steht (bei uns Utrechter Union). Dabei kann es auch länger offen bleiben, was eine Glaubensfrage ist und was nicht. Das muss gemeinsam gelöst werden. Eine solche Wahrheitsfindung geschieht im Konsensprinzip. Im kirchlichen Jargon heisst dies Einmütigkeit. In der Praxis der Alten Kirche war Konsens / Einmütigkeit nicht gleichbedeutend mit Einstimmigkeit, sondern konnte auch eine sehr grosse Mehrheit oder eine fast Einstimmigkeit sein.

Aus der innerkatholischen Opposition gegen die Beschlüsse des Ersten Vatikanischen Konzils entstanden unmittelbar oder mittelbar die altkatho­lischen Kirchen. Sie stellten dem Jurisdiktionsprimat eine bischöflich-synodale Kirchenverfassung gegenüber. Wenn wir fragen, wie sich diese Kirchenverständnisse bewährt haben und bewähren, stellen wir fest, dass beide Systeme in einer Krise stecken. Das bischöflich-synodale hat anscheinend zu wenig Autorität, das päpstliche anscheinend zu viel. Beide stehen heute in der Umbruchsituation der postmodernen Gesellschaft, die den Zeitumständen des Ersten Vatikanischen Konzils gleicht: Einerseits muss die Kirche die aktuellen Probleme und Wünsche der Menschen ernst nehmen. Andererseits muss sie der Wahrheit, dem Evangelium Jesu Christi, treu bleiben.

Unterstellungen nicht angesagt

Es ist aus heutiger Sicht nicht korrekt, der Mehrheit der Bischöfe auf dem Ersten Vatikanischen Konzil unterstellen zu wollen, ihr sei es nur um den Papst und seinen Herrschaftsanspruch gegangen. In einer Zeit grosser Umbrüche musste die katholische Kirche ihre Glaubensgrundsätze und moralischen Prinzipien inhaltlich und institutionell neu formulieren und festlegen, wer sie bestimmt und durchsetzt. Schliesslich fand die Mehrheit der damaligen Bischöfe die Lösung des Problems in der Autorität des Papstes. Das Zweite Vatikanische Konzil (11.  Oktober 1962 bis 8.  Dezember 1965) kehrte dann wieder zur Einbettung des Papstes in die Kollegialität der Bischöfe und zur Stärkung der Teilkirche als Ortskirche zurück. Dabei legte es das Verhältnis zueinander zugunsten des Papstes fest. Er bestimmt, wann Kollegialität sein darf.

Ich gehe aufgrund meiner Sicht davon aus, dass christliche Kirche «nicht von dieser Welt» ist und dass in ihr daher wirklich alles anders ist. In diesem Sinne ist die Kirche weder demokratisch noch monarchisch, sondern funktioniert im Idealfall analog der Alten Kirche und ähnlich dem schweizerischen Konsensprinzip: Alle kommen zusammen, beten, diskutieren und finden unter besonderer Berücksichtigung des bischöflichen Wortes einen Konsens. In Fragen des Brauchtums entscheidet die Mehrheit. Das wäre das Ideal.
Der altkatholische Standpunkt ist der, dass frühere Entscheidungen der Kirche sich aus späterer Sicht als nicht mehr haltbar erweisen können. Wahr ist das, was die ganze Kirche glaubt auf ihrem Weg durch die Zeit. Dazu können auch neue Entscheide gehören.

Konkret heisst dies nach altkatholischer Sicht, dass es Themen gibt, wo die Antwort nach der Bibel und der Tradition klar ist. Es gibt aber auch Themen, wo sie nicht oder nicht mehr klar ist. Und wo diese Themen den Glauben berühren, benötigt es Entscheidungen im Konsens. Absolute Wahrheit gibt es nur bei Gott, aber nicht unter den Menschen. Schon Pontius Pilatus stellte in der Bibel die Frage: «Was ist Wahrheit?». Der römische Katholizismus löste mit dem Ersten Vatikanischen Konzil die Wahrheitsfrage, in dem er sie «entzeitlichte»: Die Päpste interpretieren Bibel und Tradition und dürfen sich dabei nicht widersprechen. Dem steht der altkirchliche bzw. altkatholische Katholizismus gegenüber, der sich auf Vincentius von Lerinum (um 450 n.  Chr.) beruft, für den das wirklich katholisch ist, «was überall, immer von allen geglaubt worden ist». Allerdings eben nicht zeitlos und statisch verstanden, sondern wandelbar.

Für beide «Katholizismen» bleibt die kritische Anfrage, ob die unterschiedliche kulturelle und ökumenische Situation in den einzelnen Ländern überhaupt ein einheitliches, prinzipielles Handeln und Entscheiden zulässt. Lässt sich die Situation der sogenannten Alten Kirche (Bistümer bzw. Ortskirchen um das Mittelmeer herum) auf die heutige ökumenische Ausgangs­situation übertragen? Ist nicht jede Konfessionskirche auf Weltebene bereits ein Kosmos in sich? Können daher Veränderungen nicht auch erst einmal auf einzelne Kulturräume bezogen sein?
Die Art und Weise der Wahrheits- und Entscheidungsfindung als Katholizität

Die Bedeutung der altkatholischen Kirchen beruht primär darauf, dass sie neben der römisch-katholischen und der orthodoxen Kirche als eindeutig katholische Kirchen gelten. Wenn wir aufhören, diesen Schatz zu hüten, geben wir uns selbst auf. Unser erster Bischof Eduard Herzog betonte im Ringen um unsere Kirchwerdung immer wieder, dass er als Bischof das Recht und die Pflicht habe gegen «unkatholische» Beschlüsse der Nationalsynode zu protestieren. Aber was ist ein katholischer und was ist ein unkatholischer Beschluss? Es geht dabei nicht um die Frage, ob ein Beschluss vom Bischof als richtig oder falsch beurteilt wird. Denn er ist ja genauso wenig wie der Papst unfehlbar. Sondern es geht darum, ob ein Beschluss die Einheit gefährdet; sowohl innerhalb der eigenen Kirche, des eigenen Ortskirchenverbandes (bei uns die Utrechter Union) als auch im Hinblick auf die ökumenischen Beziehungen. Und ob im Konsensverfahren die Wahrheit genügend intensiv gesucht wurde. Das spielte bei der Einführung der Frauenordination in unserer Kirche eine Rolle. Hier haben wir in einem langen und sorgsamen Entscheidungsfindungsprozess unser bischöflich-synodales System umgesetzt.

Nach wie vor aktuell

Bischof Dr. Harald Rein, © Matthias Wassermann

Lassen Sie uns bei der Frage der Ehe für alle genauso behutsam vorgehen. Unsere Nationalsynode hat 2019 beschlossen, dass sie die staatliche Ehe für alle befürwortet, da es nicht Auf­gabe einer Kirche sein kann, andere zu diskriminieren. Zugleich hat sie aber die kirchliche Umsetzung einer solchen staatlichen Ehe für alle im Hinblick auf die derzeitigen Riten «Sakrament der Ehe» und «Segnung einer Partnerschaft» erst einmal offengelassen. Wenn wir unserem bischöflich-synodalen System treu bleiben, können wir die Verantwortung diesbezüglich weder individualisiert nach unten delegieren, wie es die Evangelisch-reformierte Kirche Schweiz getan hat: Jede Kantonalkirche und jede/r Pfarrer/in entscheidet für sich. Noch können wir die Kirche von der Welt trennen, wie es die Schweizer (römisch-katholische) Bischofskonferenz entschieden hat: Was der Staat macht, ist nicht unser Problem.

Es braucht einen – an der Bibel und an der Tradition orientierten – breit abgestützten Beschluss, an den sich dann alle Christkatholikinnen und Christkatholiken aus innerer Überzeugung halten und der unseren Schwesterkirchen und der Ökumene plausibel kommuniziert werden kann. Die Fragestellungen des Ersten Vatikanischen Konzils und die damit verbundene Entstehung der Christkatholischen Kirche sind nicht nur historische Ereignisse, sondern berühren weiterhin aktuelle Fragen des Lebens der katholischen Kirche.

+ Harald Rein

 

Der Hirtenbrief 2020 als PDF
[ddownload id=“52359″]