Judas – Verräter oder Auslieferer?

Was spielt Judas Iskariot für eine Rolle in der Leidensgeschichte Jesu?

Gefangennahme Christi oder Arresto di Gesu von N. Giolfino (1476 – 1555) in der Avanzi-Kapelle der Kirche San Bernardino, Italien. Bild: Shutterstock

Einer der Jünger Jesu hatte seine Finger im Spiel, als Jesus von den Behörden verhaftet und vor Gericht gebracht wurde. Judas wurde zum sprichwörtlichen Verräter. Doch es ist nicht ganz eindeutig, was für Motivationen dahinterstehen. Geschah der Verrat aus reiner Habgier, aus ­politischen oder anderen Gründen? War Judas ein Hitzkopf, der mit dem Feuer spielte, oder doch bloss der Brandbeschleuniger?

Wenn wir heute von einem «Judaskuss» hören oder lesen, denken wir an hinterlistigen Verrat, und die Bezeichnung «Judas» ist volkssprachlich für Verräter gebräuchlich. Beschäftigen wir uns einmal mit der Rolle jenes Jüngers, der Jesus gemäss den Evangelien am Vorabend seines Leidens verraten hat.

Zuerst einmal ist Judas ein damals gebräuchlicher Vorname, der auf einen der Söhne Jakobs und somit einen der zwölf Stammväter zurückgeht. Mit dem Beinamen «Iskariot» fängt es an komplizierter zu werden. Denn da gibt es zwei Deutungen. Zum einen ist es möglich, dass es eine Herkunftsangabe ist und heisst: Judas aus Qerijot. Das ist ein Dorf in Judäa und somit könnte diese Bezeichnung wie ein Familienname gebraucht worden sein. Eine andere Wortdeutung aber beruht auf einer Zugehörigkeit zu einer Gruppe von Zeloten («Eiferer»), genauer einer Gruppe von «Sikariern», Dolchträgern, die bewaffnete Angriffe auf Römer oder romtreue Landsleute verübten. Diese hofften auf eine gewaltsame Befreiung ihres Landes von der römischen Herrschaft. Dass Menschen aus diesem Umfeld mit Jesus in Kontakt waren und ein Zelot sein Jünger war ist erwiesen, denn in der Namensliste der Zwölf taucht «Simon der Zelot» auf.

Künftiger Verräter

Judas Iskariot wird in den Evangelien von Matthäus, Markus und Lukas zusammen mit den anderen zwölf erstberufenen Jüngern aufgezählt, wobei sie ihn gleich als künftigen Verräter bezeichnen. Sonst gehört er aber zu der Gruppe, die Jesus als «Brüder» anspricht und von denen es heisst: «sie trieben Dämonen aus und salbten viele Kranke mit Öl und heilten sie». Erst als sich die Gefahr für Jesus von Seiten der jüdischen Behörden zuspitzt, äussern sich die drei Evangelisten über ein mögliches Motiv. Während Markus schreibt, dass Judas zu den Hohepriestern ging, und diese freudig überrascht waren und ihm Geld versprachen, erzählt Matthäus eine leicht andere Version, wonach Judas habgierig war und wegen des Geldes bei den Hohepriestern vorstellig wurde. Auch bei Lukas bieten die Hohepriester Judas Geld an, doch unterscheidet sich der Bericht darin, dass der Satan in Judas gefahren sei. Es wäre denkbar, dass Lukas an die Kraft des Bösen gedacht hat, doch gibt es eine weitere Möglichkeit, die wir unbedingt einbeziehen müssen. Der alttestamentliche Satan ist weniger der Inbegriff des Bösen als vielmehr die Figur, welche die Menschen auf die Probe stellt, sie in Versuchung führt. Demnach wäre die Motivation des Judas nicht eine wissentlich böse Tat, sondern vielmehr eine Versuchung, zum Beispiel eine fehlgeleitete Handlung aufgrund einer falschen Einschätzung der Lage.

Die damit verbundene Frage ist deshalb wichtig, weil die Evangelisten unterschiedliche Bezeichnungen wählten. Lukas benützt ein griechisches Wort, das man mit «Verrat» übersetzen muss, bei Matthäus und Markus ist es eins, das eher mit «überliefern/ausliefern» übersetzt werden muss.

Fresko des letzten Abendmahls Christi von Leopold Kupelwieser aus dem Jahr 1889 im Kirchenschiff der Altlerchenfelder Kirche in Wien. Bild: Shutterstock

Jesus irritiert

Die Evangelien erzählen uns von diversen Ereignissen, in welchen Entscheidungsträger des jüdischen Volkes, namentlich die Pharisäer und Sadduzäer, sowie die Priesterschaft eine Rolle spielen. Diese waren offensichtlich durch den Wanderprediger Jesus aus Nazareth irritiert und herausgefordert. Zu den Vorwürfen minderer Wichtigkeit, wie etwa der Missachtung des Sabbatgebotes, kommen solche des Aufruhrs und Störung der gesellschaftlichen und religiösen Gesetze. Es steht der Vorwurf der Blasphemie im Raum, indem Jesus vorgeworfen wird, er sehe sich als Gottes Sohn. Doch was Jesus offen kritisiert, ist moralisches Fehlverhalten, nicht die Gesetze selbst. Er sieht sich als Empfänger von göttlichen Offenbarungen, aber nicht als Revolutionär und schon gar nicht als politischer Freiheitskämpfer. Trotzdem ist er den Behörden ein Dorn im Auge und viele wollen ihn beseitigen.

Teil des Heilplanes

Darum kann es überhaupt erst zu jenen Ereignissen kommen, die wir kirchlich am Hohen Donnerstag ins Gedächtnis rufen. Jesus kündet beim letzten Mahl mit den Jüngern den Verrat an. Doch so wie das erzählt wird, wirkt es geradezu wie ein Auftrag Jesu. Das unterstützt die Auslegung, wonach Judas die Rolle hat, eine unausweichliche Entwicklung voranzutreiben. Damit wird die Auslieferung zu einem Teil des Heilsplanes. Diese Version ist auch absolut kompatibel mit der Variante, wonach Judas ein Zelot war, der einen politisch und militärisch agierenden Messias erwartet hatte. War er enttäuscht darüber, dass Jesus nicht von einem Aufstand redete, sondern vom Reich Gottes, von menschlichen Qualitäten und Nächstenliebe? War er ungeduldig und wollte seinen Meister dazu zwingen, sich als Messias zu offenbaren und sich auf die Seite eines Befreiungskampfes zu schlagen?

Aus welchen Motiven auch immer es geschieht: Als Jesus sich mit den Jüngern im Garten Gethsemane aufhält, kommen die bewaffneten Tempeldiener zur Verhaftung. Sie wollen dies an einem Ort tun, wo keine Menge von Sympathisanten und Anhängern sein wird, im Schutze der Dunkelheit. Um Jesus einwandfrei zu identifizieren haben sie mit Judas ein deutliches Zeichen vereinbart. Der Mann, den er zur Begrüssung küsst, ist es. So kommt es zum sprichwörtlichen «Judaskuss».

Während die anderen Evangelisten über Judas nichts weiter berichten, fügt Matthäus noch eine Episode an. Als Judas realisiert, dass Jesus zum Tode verurteilt worden ist, reut es ihn und er will die dreissig Silberstücke zurückbringen. Die Hohepriester wollen davon nichts wissen. Judas wirft das Geld in den Tempel und begeht Suizid. Auch dies passt zur Version, wonach Judas nicht eigentlichen Verrat im Sinne hatte, sondern die Ereignisse vorantreiben wollte. Erst als es zu spät ist, begreift er, dass er einen Unschuldigen zum Tod ausgeliefert hat.

Bild des Verräters

Es bleibt anzumerken, dass die Geschichte von Judas auch schlimme Folgen in der Beziehung zwischen Christen und Juden hatte. Das negative Bild des Verräters wurde auf das jüdische Volk übertragen und ihm die Schuld am Tode Jesu zugeschrieben. Diverse hochgeschätzte Kirchenväter und Theologen haben sich damit versündigt, dass sie diese Zuweisung portierten. So etwa Eusebius, der schrieb, dass die Juden ihren Namen nach dem Verräter Judas trügen. Diese Ungeheuerlichkeit ist ein Beweis dafür, dass auch hochgebildete Menschen immer wieder Erzählungen und Fakten verdrehen, und ihre gehässigen Gefühle auf Personen und Ereignisse projizieren. Als Menschen der Epoche der Fake-News ist uns das bewusst.

Pfr. Daniel Konrad