Kleine biblische Zoologie: Folge XVI

Der Sündenfall

Die Schlange führt Eva in Versuchung, Furtmeyr Bibel, 15.Jh

An sich gibt es drei Gründe, weshalb die Schlange in unseren Breitengraden bei vielen Menschen Angst auslöst:

1) Die Geschichte von Adam und Eva und dem Sündenfall, welche im jüdisch-christlichen Kulturkreis selbst in einer zunehmend dem Neu-Heidentum verpflichteten Gesellschaft tief verwurzelt ist.

2) Die Tatsache, dass Schlangen keine Extremitäten haben. Als Kleinkinder werden wir von unseren Eltern angehalten, ja keine Würmer «und anderes beinloses, ekliges Zeugs» anzufassen. Diese Erziehung hinterlässt derartige Spuren, dass Menschen mit grossem Erstaunen feststellen, wie trocken und angenehm sich eine Schlange anfühlt, wenn man sie in die Hand nimmt.

3) Schlangen sind giftig und damit «lebensgefährlich». Mehr will man dann gar nicht wissen. Etwa, dass Schlangen Menschen nur in einer Notwehrsituation beissen. Oder etwa, dass die Todesfallrate nach einem ärztlich behandelten Giftschlangenbiss sich unter 1 % bewegt. Oder etwa, dass nur 10 % aller Schlangenarten weltweit dem Menschen durch einen Biss überhaupt gefährlich werden könnten…
So prägt die Geschichte vom Sündenfall (1. Mose 3,1-24) unsere Einstellung gegenüber der Schlange bis heute. Kein Wunder: Wer «schuld» ist an unserer Vertreibung aus dem Paradies, der muss ja böse und gefährlich sein…

Die Schlange kommt in der Bibel aber auch noch anders daher: «Seid klug wie die Schlangen…», sagt Jesus zu seinen Aposteln (Mt 10,16). Das könnte heissen: Behaltet eure Gegner nach Schlangenart scharf im Auge, überseht die Situation mit wachen Augen und bleibt Herr in jeder Situation.
Und schliesslich kennen wir auch die Geschichte von der «ehernen Schlange», zu der die Menschen aufschauen mussten, um beim Biss durch die Schlangen gerettet werden zu können (4. Mose 41,4-9). Jesus selbst hat gesagt, was dies bedeutet: «Und wie Mose in der Wüste die Schlange erhöht hat, so muss der Menschensohn erhöht werden…» (Jo 3,14). Es gilt auf den zu schauen, der der Schlange «den Kopf zertreten» hat und den die Schlange «in die Ferse» gestochen hat.

Dieses «Protoevangelium» (1.Mose 3,15) kann als Hinweis auf den Erlöser Jesus Christus gedeutet werden, der von der Schlange zwar gebissen wird, aber dennoch nicht nachhaltig Schaden nimmt: «Tod, wo ist dein Stachel? Tod, wo ist Dein Sieg?» (1.Kor 15,55). Vielleicht ist dies ein Hinweis darauf, dass man beim Blick auf Jesus Christus keinesfalls «die Schlange» vergessen sollte -dies auch gerade deshalb, weil man von ihr bzw. dem, der dahintersteckt, in unseren Predigten kaum mehr etwas hört.

Jürg Meier