Mit Freude sich den Menschen zuwenden

Pfarrer Michael Bangert. Foto: Lenz Kirchhofer

Text der Predigt von Pfarrer Michael Bangert am Synodegottesdienst 2018 in Basel

Liebe Gemeinde

In der Christkatholischen Kirche ist es vom eigenen Selbstverständnis her üblich, alles was getan und überlegt werden soll, unter der Perspektive dessen «was immer und überall und von allen geglaubt worden ist», zu betrachten und zu prüfen. 

Dieser Parameter, den Vincentius de Lerinum markant formulierte, prangt bezeichnenderweise auf jeder ersten Seite der hochehrenwerten IKZ (Internationale Kirchliche Zeitschrift): «Was immer und überall und von allen geglaubt worden ist!» Das ist fraglos eine sehr kluge Struktur, eine wichtige theologische Matrix, aber inhaltlich bedeutet sie noch gar nichts. Es lohnt sich daher, auch zu fragen was wir inhaltlich und geistlich aus der Tradition der alten Kirche für unsere Zeit, unsere Gegenwart gewinnen können. Vor allem, wenn wir darüber nachdenken wie der Synodalrat uns das anempfiehlt, wie wir die Zukunft gestalten. 

Die sogenannte «Alte Kirche» ist nicht immer weit weg. Die «Alte Kirche» ist kein Phänomen aus «Tausend und eine Nacht». Gar nicht so weit ist sie. Schauen wir zum Beispiel auf Lyon. Lyon ist aus der Sicht von Basel nah. Es gibt nämlich alte geschäftliche Kontakte – unter anderem die Firma Alioth, eine bedeutende Weberei hier im Raum Basel, hatte jedes Jahr intensiven Austausch. Also, Lyon ist nicht weit. Und der grosse Kirchenlehrer Irenäus lebte und lehrte dort im 2. Jahrhundert nach Christus. Irenäus, der zweite Bischof von Lyon, kommt übrigens – auch das sei noch erwähnt – aus Smyrna, dem heutigen Izmir. Also da kommt uns der ganze Orient – mit seinem Wissen, seiner Kultur und seiner tiefen Gotteslehre – plötzlich am Zusammenfluss der Rhône und der Saône entgegen. 

Hinwendung zum Menschen

Und dieser Irenäus von Lyon, 135 geboren, schreibt in einem seiner Werke: «Die Freude Gottes ist der lebendige Mensch!» Man könnte auch anders übersetzen: «Der Glanz Gottes ist der lebendige Mensch!» Aber unabhängig von der Detailübersetzung: Was der Irenäus vorschlägt, ist den lebendigen Menschen als genau den Ort zu verstehen, wo sich das Göttliche als Glanz, als Basis der Freude in der Gegenwart zeigt. Im Grunde wäre damit jede Zukunftsarbeit jeder christlichen Kirche klar, nämlich Zuwendung zum lebendigen Menschen. Man kann viele Dinge in der Struktur ändern. Das müssen wir auch! Ohne Frage! 

Aber was der Kirchenvater Irenäus empfiehlt: Zuwendung zum lebendigen Menschen, zum Nächsten mit aller Kraft und der gesamten geistlichen Kompetenz.

Einschliesslich meines Theologiestudiums arbeite ich jetzt seit nunmehr 40 Jahren für unterschiedliche Kirchen und kirchliche Organisationen. Und ich habe viele – und ich will es offen und ehrlich sagen – viel zu viele Kirchenleute in der Schmerzenskammer der Traurigkeit sitzen sehen, wo sie beständig über den Zustand ihrer Kirche klagen. 

Kein Grund zum Jammern

All denen hätte ich gerne diesen Satz gesagt: «Die Freude Gottes ist der lebendige Mensch!» Solange es Menschen gibt, gibt es überhaupt keinen Grund zum Jammern. Es ist wahr: Kirchen können zu Ende gehen, auch das weiss die frühe Kirche. Die frühe Kirche hat nicht gesagt: «Wir sind die Sonne der Welt und wenn unser Glanz untergeht, – uh, uh, uh, – dann ist es dunkel!» Solch melancholische Selbstbedrohung hatten die Mütter und Väter unseres Glaubens nicht nötig. Im Gegenteil: Sie nutzen durchgängig ein anderes Bild: Christus ist die Sonne. Und die Kirche ist der Mond. Der Mond ist auf seiner Bahn Schwankungen unterworfen – das kann so oder so gehen, auf und nieder. Heller oder dunkler. Das ist nicht die Schuld der Christen. Es kann sein, dass Neumond ansteht. Vollständiger Leermond. Dunkelste Nacht. Es kann aber auch sein, dass gleich am nächsten Tag – wunderschön am Himmel der Welt – das Licht der Kirche als schmalste Sichel wieder aufleuchtet. 

Mit «Glanz» in die Zukunft

Das Bildwort hat die Frömmigkeit der frühen Kirche geprägt. Die Kirche ist nicht die Sonne. Wir sind nicht die Mitte des Kosmos. Aber wir können diesen Glanz sehen, indem wir uns gegenseitig anschauen. Damit hätten wir’s ja schon. Sehr einfach. Wenn wir auf den lebendigen Menschen schauen, dann kommen wir – da bin ich sehr gewiss – da kommen wir ganz alleine auf gute, weiterführende Ideen. Da kommen wir alleine auf den zukunftsträchtigen, zuversichtlichen Weg. Mit diesem Glanz, der uns begegnet, der uns in die Zukunft führt. 

Hier ist noch ein Beispiel zu nennen, das historisch nicht so weit von der «Alten Kirche» entfernt ist (Dieses Exempel müsste eigentlich der Pfarrer von Möhlin erzählen, weil er sich da viel besser auskennt!). Es geht mir um den bedeutenden Franz von Assisi. Alle kennen diesen Mann aus Umbrien. Erst spricht Christus vom Kreuz in San Damiano zu ihm. Dann legt er seinem Vater seine Kleider vor die Füsse. Er predigt Vögeln, besänftigt Wölfe – das ganze fromme Spektrum der Heiligenviten. Und was schreibt dieser Mann in seinem Testament über das, was sein Leben verändert hat? Er schreibt: «Der Herr hat mir geschenkt, dass ich in einem Bettler, einem aussätzigen Bettler, den Herrn selbst erkennen konnte und er hat mir die Kraft gegeben, ihn zu umarmen und zu küssen!» Die Begegnung mit dem lebendigen Menschen, das ist der Glanz in dieser Welt, das bringt uns auf neue Ideen. Da braucht es kein weiteres heiliges Getue und Geflirre. 

Vielleicht müssen wir wirklich einfach einmal auf die Tradition schauen und das gewinnen, was uns da auch als Schatz entgegenkommt. Nun gut, der lebendige Mensch ist aus vielen Kirchen aus den heiligen Räumen ausgezogen. Wir sprechen nicht so offen darüber. Aber dieser Auszug geht unvermindert weiter. Das ist nicht nur bei uns, das ist auch bei den anderen Kirchen so. 

Die Traurigkeit ablegen

Jetzt geht es nicht darum, als erstes zu sagen mit welchen geschickten und möglichst klugen kommuniktionstechnisch hoch aufgepeppten Tricks wir die Leute zurück in die Kirche bringen. Nein. Wir müssen unsere Perspektive verändern. Auf den lebendigen Menschen schauen. Und wir sollten unsere lähmende Traurigkeit ablegen. Den lähmenden Kirchenjammer. 

Hier in der Predigerkirche – ganz hinten – gibt es ein Bild von Thomas von Aquin. Er lebte wie Franz von Assisi im 13. Jahrhundert. Thomas hat viel geschrieben. Grosse Gedanken. Aber er schreibt auch ein kleines Büchlein, das ich wirklich nur jedem und jeder empfehlen kann, nämlich eine Art «Ratgeber gegen die Traurigkeit». 

Ich mache hier eine kleine, gedankliche Schlaufe: Die Basler Kultur, die vorhin bei der Begrüssung gelobt und vorgestellt wurde, hat ein besonderes Wort hervorgebracht, das in unserem Kontext weiterführend ist. Eine Formulierung, die mich als Mensch mit Migrationshintergrund wirklich dauerhaft und stark beeindruckt – auch in geistlicher Hinsicht: nämlich das Wort «20-ab-achti-Schnuure». 

Sehr wahrscheinlich gibt es das Phänomen jenseits des Juras gar nicht, sehr wahrscheinlich gibt es das nur bei uns in Basel, aber an dem Bildwort kann man etwas erkennen: Nämlich wie weit der Grad der Traurigkeit schon vorangeschritten ist. Wenn die Mundwinkel nur noch nach unten zeigen. Wenn sie dauerhaft muskulös fixiert nach unten gezogen sind. Wenn der Krampf sich nicht mehr zum Lachen löst.

Was macht man dann? Da kann man sagen: «Ja das ist eben so. Da kann man nichts machen. Die Welt ist schlecht und traurig.» Oder man kann – was ich für einen der grössten geistlichen Fehler halte – das Ganze noch mit dem Kreuz Christi verbrämen. Das ist ein übler Trick der ungeordneten Traurigkeit, dass sich auch noch des Lebenszeichens des Kreuzes bemächtigt.

Sich etwas Gutes tun

Oder aber man kann ganz einfach dem heiligen Thomas von Aquin folgen. Er sagte sinngemäss: «Wenn du traurig bist, mach Folgendes: Nimm ein Bad, sprich mit Freunden, iss was Gutes, mach einen Spaziergang!» Thomas fängt nicht mit Leistungsanforderungen oder frommen Hinweisen an. Er sagt nicht: «Lern alle 150 Psalmen auswendig!» oder «Grab dich in das Leid hinein!», das eben sagt er nicht. Thomas empfiehlt noch andere Sachen. Aber allemal baden, essen, spazieren gehen, mit Freunden sprechen – das hebt die Seele des Menschen aus der Traurigkeit heraus. 

Vielleicht sollten wir genau das auch versuchen: Uns aus der lähmenden Melancholie befreien. Ist eine Synode nicht auch dafür da? Wenn wir nur mit gemessenen, bedeutenden, grossen Schritten, vom Leid der Welt niedergedrückt, durch die Zeit schreiten, dann wird sich niemand, der lebendig ist, uns freiwillig anschliessen. Mit dieser Haltung werden wir allein bleiben und immer einsamer werden.

Für die Jungen ein Ohr haben

Es gibt ja einen philosophischen «genius loci» in Basel, der bereits erwähnt wurde. Friedrich Nietzsche, der von den Christen sagt: «Die Erlösten müssten erlöster aussehen.» Das wäre nicht so schlecht, scheint mir. Etwas erlöster aussehen. Das meint keine spirituelle Schminke. Das meint sich trösten lassen und für den Trost durchscheinend zu werden.

Dann kommen wir auf neue Ideen, dann liegt die Zukunft «himmelweit» offen. Dazu bietet unser theologischer Referenzpunkt – eben die «Alte Kirche» – so viele Lernmöglichkeiten. So viele Anregungen. So viele Hinweise.

Ein Beispiel: Die «Regula Benedicti», die wichtigste Mönchsregel der Spätantike. Man kann sagen: «Das ist ein hochheiliges Ding!» Untouchable! Wir könnten aber auch hören, was diese Ordensregel konkret sagt. Unter anderem sagt sie dies: «In jedem wichtigen Punkt sind die Jüngsten zu hören!» Ja, warum hören wir nicht direkt auf unsere – an Jahren junge – Finanzverwalterin Anne Loch, die sagt: «Weg mit dem alten Modell der gedruckten Protokolle. Wir machen das digital!» Eigentlich müssten wir aus der Sicht der Benediktsregel gar nicht mehr darüber abstimmen. Weil wir auf die Jüngsten hören.

Sehen, was da ist und nutzen

Oder warum machen wir es nicht so wie zum Beispiel die Kirchgemeinde von Mailand, als sie im 4. Jahrhundert einen neuen Bischof suchte. Die Mailänder schauten sich um. «Wen haben wir überhaupt?» Und da gab es einen Spitzenbeamten der kaiserlichen Verwaltung. Einen Mann, der überhaupt noch nicht Christ war. Einen Menschen, der die Kunst des Kompromisses beherrschte. Der Menschen zusammenführen kann. 

Wir könnten sagen, es ist vergleichbar mit unserer Situation in Basel. Wir haben eine Spitzenmagistratin, unsere Finanzdirektorin Eva Herzog, die kann ebenfalls geniale Kompromisse schmieden. Wie Eva Herzog jüngst hier in Basel einen Steuerkompromiss organisiert hat, ist verehrungs- und bewunderungswürdig. Wenn wir nun einen Mensch haben, der Finanzdinge kann, ein Mensch, der mit anderen umgehen kann sowie gerade und aufrecht bei seiner Linie bleibt, dann wäre diese Frau doch auch eine Kandidatin für das bischöfliche Amt. Wenn wir nicht schon einen Superbischof hätten, könnten wir doch auf eine «göttliche» Idee kommen und sagen: «Ja, wirklich. Die Frau, diese Eva Herzog, trägt uns Gott eigentlich auf dem Silbertablett entgegen!». Damit will ich nichts präjudizieren. Auch will ich nicht sagen, dass du, liebe Eva, überhaupt damit einverstanden wärest – aber so unwahrscheinlich ist es ja nun auch nicht. Warum kommen wir als Kirche nicht auf solche Ideen? Es gibt ja Modelle dafür.

Kommen wir doch endlich aus unserer «Schmerzenskammer der Traurigkeit» heraus. Treten wir aus dem klebrigen Selbstmitleid heraus. Denn: «Die Freude Gottes ist der lebendige Mensch!» Das meint jede und jeden von uns.

Lustvoll zu Werke gehen

Der heilige Paulus, aus dessen 2. Korintherbrief wir gehört haben, schreibt: «Der Glanz liegt auf dem Antlitz Christi.» Und dieser lichtvolle Glanz Gottes leuchtet in uns. Das Licht Gottes leuchtet in uns und wir können dieses Antlitz Christi als Gegenwartsort Gottes erkennen. Wir können es. Und Paulus schreibt in demselben Brief wenige Kapitel weiter, dass wir diese Gegenwart unverhüllt erkennen können. Das ist uns zugesagt. Wenn wir dieser geistlichen Kraft folgen, wenn wir dieser Zusage folgen, dann muss uns gar nicht bange sein. Das hat Folgen:

Erstens, wir haben dann viel mehr Spass an der Sache. Da bin ich sehr gewiss. Das Leben wird viel lustvoller. Niemand möge nun – wie es nicht nur in unser Kirche überaus schlechter Brauch geworden ist – sagen, ich würde jetzt einer Wellness-Religion das Wort reden. Die Freude so zu diskreditieren ist ein bedenklicher Ausdruck der eigenen Perspektivlosigkeit. Aber es werden stets solche theologischen Messerstiche ausgeführt, die dann nachher noch mit Worten, die aus einer «20-ab-achti-Schnuure“ purzeln, rechtfertig werden. 

Hier braucht es Widerstand als geistliche Tugend gegen die zersetzende Macht der Griesgrame, der Schwarzseher und der mutlos Trübseligen. Die kircheninduzierte Freudlosigkeit ist nicht der Weg des Irenäus von Lyon, nicht der Weg des Thomas von Aquin, nicht der Weg Jesu von Nazareth. Unser Herr will, dass die Freude in uns vollkommen wird. 

Mit Zuversicht in die Zukunft

Keineswegs soll hier das Leid der Welt durch manischen Dauerjubel verharmlost werden. Das kann ich gar nicht; da bin ich selbst – wie im Kern jeder Mensch – zu sehr vom Leid betroffen.

Es ist das Kernstück unseres Glaubens, die Hoffnung auf den Glanz Gottes in unserer Gegenwart wahrzunehmen. In uns selbst. In den Menschen, die uns begegnen. Dass wir das sehen können ist uns geschenkt. 

Dass wir den göttlichen Schatz in zerbrechlichen Gefässen tragen, heisst ja nicht, dass wir ihn in den Tresor der Kirche sperren müssen. Uns ist aufgetragen, diesen Schatz in den zerbrechlichen Gefässen, die wir selber sind, durch die Zeit zu tragen. Das genau können wir mit Glanz, Freude und Zuversicht tun.