Ökumenischer Preis für iranischen Film

Berlinale: Preisverleihung in Abwesenheit des Regisseurs

Mit «Es gibt kein Böses» von Mohammad Rasoulof erlebt die Berlinale einen grossartigen Abschluss. Der Regisseur selbst war nicht zugegen. Die Ökumenische Jury würdigte den Film mit ihrem Hauptpreis.

Was tust du, wenn sie dich zwingen, zu töten? Um diese Frage kreist der letzte Beitrag des Berlinale-Wettbewerbs, Mohammad Rasoulofs «Es gibt kein Böses». Es gibt viele Antworten auf die moralische Grundfrage, aber vielleicht gibt es eine richtige. Das zeigt Rasoulof in vier Episoden und jede dieser Geschichten wäre Stoff­ für einen eigenen Film; alle zusammen hätten das Potenzial, der beste Film des Wettbewerbs zu werden.

Die erste Sequenz handelt von einem ganz normalen Mann. Nach Dienstschluss fährt er heim, endlich Feierabend. Frau und Kind und die Katze im Parkhaus, alles an Heshmat (Ehsan Mirhosseini) ist normal, er ist der nette Nachbar, er geht einkaufen, pegt seine Mutter, morgens um drei klingelt der Wecker. Jeder Mensch muss arbeiten, es gibt kein Böses in diesem Leben. Und doch stimmt nicht alles oder alles stimmt nicht. Auf dem Weg zur Arbeit bleibt Heshmat vor einer grünen Ampel stehen. Später sehen wir ihn im Dienst: Tee und Obst hat er sich bereitet, ein paar Lampen leuchten auf und der nette Nachbar drückt einen Knopf. Schnitt. Fünf Männer werden gehenkt.

Gibt es ein richtiges Leben im falschen? Pouya (Kaveh Ahangar), ein junger Rekrut, soll einen Verurteilten zur Hinrichtung bringen. Er will nicht, er diskutiert mit seinen Kameraden. Ist er besser als sie? Was sind die moralischen, was die sozialen Konsequenzen einer Entscheidung? Wer gehorcht, erhält Urlaub, wer sich weigert, darf nicht studieren, darf keinen Führerschein erwerben et cetera. Wer nein sagt, wird erledigt, zumindest sozial und ökonomisch. Schliesslich setzt Pouya alles auf eine Karte und grei‑ an. Geht das gut? Es sieht fast so aus. In der dritten Episode sehen wir Javad (Mohammad Valizadegan) bei seiner Freundin Nana (Mahtab Servati) auf dem Land. Drei Tage Sonderurlaub hat ihm das Militär gewährt und heute will er ihr den Heiratsantrag machen. Doch dann holen ihn die Folgen seines Gehorsams ein. Der Mann, den er hinrichtete, war ein enger Freund von Nanas Familie. Ein Zurück gibt es nicht mehr, alles, was wir tun, verändert uns. «Ich werde dich vermissen», sagt Nana, als sie Javad verlässt.

Iran verbietet dem Regisseur die Ausreise

Welche Freiheit ist möglich in einer Welt des Zwangs? Dafür, dass er diese Frage stellt, wird der 1972 geborene Autor und Regisseur Rasoulof seit Jahren vom iranischen Regime verfolgt, drangsaliert, verurteilt, inhaftiert. Jetzt verbieten die Mullahs dem Mann, der den besten Film dieses Wettbewerbs gedreht hat, die Ausreise. «Das Recht darauf, selbst über meine An- oder Abwesenheit zu entscheiden, ist mir nicht gegeben», erklärt Rasoulof. «Die Durchsetzung solcher Restriktionen verrät die intolerante und despotische Haltung der iranischen Regierung nur allzu deutlich für Mut und moralische Grösse, Mohammad Rasoulof hätte ihn verdient.

«Herausragend erzählt, von grosser
filmischer Qualität und mit überzeugenden
darstellerischen Leistungen».

Aber Mohammad Rasoulof hätte den Goldenen Bären auch so verdient, weil dies der Preis für den besten Film des Wettbewerbs ist. Den Hauptpreis der Ökumenischen Jury erhielt der Film bereits. «Herausragend erzählt, von grosser filmischer Qualität und mit überzeugenden darstellerischen Leistungen», befand die Jury. Er zeige «eine grundsätzliche Kritik der Todesstrafe im Allgemeinen und des repressiven iranischen Systems im Besonderen». «Deine Macht liegt im Nein-Sagen», heisst es in diesem Film. In der letzten Episode zeigt Rasoulof seine ganze Meisterscha‑. Wie in einer griechischen Tragödie untersucht er eine moralische Tat von ihren Konsequenzen her. Darya (Baran Rasoulof), eine junge Frau mit iranischen Wurzeln, kommt für ein paar Tage aus Deutschland nach Iran, um Bahram (Mohammad Seddighimehr), den Bruder ihres Vaters, und dessen Frau Zaman (Jila Shahi) zu besuchen. Vater und Onkel haben die Reise geplant, es gibt etwas zu besprechen.

Nach und nach wird deutlich, was es ist. Bahram hat nicht studiert und ist doch ein Arzt. Er hat keinen Führerschein, er lebt fern von der Zivilisation. Vor 20 Jahren handelte er wie Pouya aus der zweiten Episode: Er weigerte sich, zu töten. Mit der bürgerlichen Existenz verlor er die Tochter. Darya erfährt, dass er ihr Vater ist. Für sie bricht eine Welt zusammen. «Was nutzt die Wahrheit, wenn man damit ein Leben zerstört?», fragt sie, enttäuscht und verletzt. Doch am Ende wendet sich das Bild noch einmal und Darya beginnt, zu verstehen. Vielleicht gibt es ja kein richtiges Leben im Falschen, doch wahr ist auch: Ein falsches Leben im Falschen wäre der grössere Fehler.

Der Film «Es gibt kein Böses» («There Is No Evil») ist auch mit dem Goldenen Bären ausgezeichnet worden.

Hans-Joachim Neubauer (kath.ch)