
Al-Noor-Moschee in Christchurch, Neuseeland.
Das Attentat vom 15. März in Christchurch, Neuseeland, erschüttert die Welt und weckt Erinnernungen. Überlegungen des neuseeländischen anglikanischen Theologen Douglas Pratt, der seit 2010 als Forschungsprofessor mit dem Institut für Christkatholische Theologie verbunden ist. Ende 2018 war die Vernissage seines Buches über «Religion und Extremismus» in Bern.
Neuseeland hat geblutet durch einen Akt islamfeindlichen Terrorismus, der dominiert wird von weiss-rassistischen Überlegenheitsgefühlen. Muslimen wurde Gewalt angetan, die Nation verletzt. Mit einer Mixtur aus Islamfeindlichkeit und Rassenhass wurde am 15. März 2019 ein Anschlag auf das sich als tolerant, kulturell divers und friedvoll verstehende Neuseeland verübt.
11. September 2001 = 15. März 2019 ?
Die 50 Ermordeten gehören zu den 0,1 % der muslimischen Gemeinschaft in Neuseeland, die schätzungsweise 52 000 Mitglieder zählt und damit etwa 0,001 % der Gesamtbevölkerung Neuseelands (ca. 4,8 Mio.) ausmacht. Zum Vergleich mit den USA: Dort entspricht 0,001 % der Bevölkerung etwa 3300 Personen. Der Anschlag vom 11. September 2001 kostete über 3000 Menschen das Leben, das Massaker an den 50 Ermordeten in Neuseeland ist äquivalent dazu. Ist damit der 15. März der 11. September von Neuseeland?
Trotz solcher Ähnlichkeiten auf den ersten Blick bestehen grundlegende Unterschiede. An Neuseelsands dunkelstem Tag waren muslimische Immigranten das Ziel, es waren nicht die nicht-muslimischen Immigranten im Allgemeinen oder – wie bei dem Anschlag in New York – die gesamte Bevölkerung. Das Ziel in Neuseeland waren Muslime und Muslimas, die vom Täter als «eindringende Andere» definiert wurden, die vertrieben werden müssen.
Der Täter heisst Brenton Tarrant und ist ein in Neuseeland ansässiger Australier. Er wurde zum Gesicht einer schädlichen Ideologie, die Rassenhass mit christlicher Kulturgeschichte vermischt. Dabei geht es nicht darum, dass Tarrant ein Gegner von Migration ist – das ist lediglich ein Element. Er ist auch nicht grundsätzlich gegen alle, die nicht weiss sind. Es geht ihm um einen Islam, wie er aus einem bestimmten Verständnis der europäischen Geschichte und aus einer radikalisierten Reaktion auf islamischen Extremismus in Europa und andernorts konstruiert wird. In Neuseeland gab es bis anhin keinen islamistischen Terrorakt, auf den Tarrants Anschlag eine Reaktion wäre. Sein Anschlag ist deshalb zu verstehen als stellvertretender Anschlag, der sich auf Äusserungen radikalisierter Islamisten in anderen Ländern beruft, um im Gegenzug Rache nehmen zu können an Muslimen.
Was Tarrant und Breivik verbindet
Tarrant spricht über Rache «für die hunderttausenden Toten, die in der Geschichte von fremden Eindringlingen in europäischen Ländern verursacht wurden». Er will Rache üben für die Millionen von Europäern, die von Muslimen versklavt, und für die Tausenden, die «durch terroristische Anschläge verloren» worden seien. Und er gibt an – mit einer plötzlichen Wendung zur Gegenwart –, dass es ihm darum gehe, «die Immigrationszahlen in europäischen Länder zu senken, indem die Eindringlinge eingeschüchtert und ausgeschafft werden». Was hat das mit der Geschichte oder dem heutigen Neuseeland zu tun?
Die ideologischen Wutausbrüche sind klar. Tarrant benutzt Vorstellungen, die dem Manifest des norwegischen Extremisten Anders Breivik gleichen; wie Tarrant war auch er ein bewaffneter Einzelkämpfer, der unbewaffnete Unschuldige abschlachtete. Breiviks und Tarrants ideologisch verzerrte Sichtweisen werden von vielen in der ultrarechten extremistischen Gemeinschaft geteilt. Muslimische Immigranten werden hier als Eindringlinge gesehen, denen man sich auf Biegen und Brechen widersetzen und die man allenfalls eliminieren muss.
Tarrants historisches Unwissen liegt auf der Hand und seine Wahrnehmung heutiger sozio-politischer Realitäten ist äusserst begrenzt. Jedoch: Das ist der Stoff, aus dem Islamfeindlichkeit fabriziert wird – es ist ausserdem der wahre Fokus dieses weissen Überlegenheitsextremismus. Es geht hier nicht einfach um ein rassistisch motiviertes Ereignis, sondern um ein zutiefst religiöses – dies schon allein deshalb, weil es eine ganz bestimmte religiöse Gemeinschaft in den Blick nimmt. Punkt.
Europäische Geschichte vereinnahmt
Dieser australische Import ist kein ideologischer Einstein: Tarrant hat lediglich Versatzstücke europäisch-arabischer Furcht vor dem Islam kopiert, zusammengeklebt und mit virulent anti-muslimischen Phrasen gewürzt und dabei seine Vorstellung mit seinem – verzerrten – Bild eines westlichen Christentums beigefügt, das einst die europäische Identität bestimmt und gegen die islamischen Mächte gestritten habe – bei den Kreuzzügen, bei der Rückeroberung Spaniens im 15. Jahrhundert und bei der Belagerung Wiens. So stellen Breivik, Tarrant und andere Überlegenheitsideologen die historische Christenheit vor, die in einem einheitlich-christlichen Europa den islamischen Feind bekämpfte. Ähnlich wie Anders Breivik vor einem Jahrzehnt glaubt Brenton Tarrant sich als Leuchtfeuer, Modell und Ansporn für den Aufstand der (Mit-)Weissen gegen die islamische Invasion. Doch halt, das Ziel liegt noch tiefer; alles soll getan werden (z. B. durch ‘Rassentrennung’), um etwa in den USA «die Zukunft der weissen Rasse auf dem nordamerikanischen Kontinent zu sichern». Aber wie sollen solche Ziele erreicht werden, indem unschuldige Muslime in Neuseeland massakriert werden?
15. März 2019 – das neuseeländische «Norwegen 2011»
Hätte das, was geschehen ist, nicht solch tragische Folgen, könnte man solche Gedanken als lächerlich bezeichnen. Aber es ist tragisch. Trotz mancher Anklänge an den 11. September liegt die Deutung des Massakers vom 15. März 2019 als das neuseeländische Norwegen von 2011 näher. Wir in Neuseeland wurden von einer Form von religiös-kulturellem Extremismus angetastet. Denn es besteht kein Zweifel darüber, dass es hier um die ideologische Verbindung von Rassenhass mit religiösen Elementen geht. Darüber könnte noch viel mehr gesagt werden. Doch für jetzt, so kurz nach dem Anschlag, wollen wir zuerst festhalten, dass Neuseeland trotz dieser Ereignisse ein Ort bleibt, an dem Frieden und Toleranz befürwortet, bestätigt und gelebt werden.
Innerhalb von zwei Tagen nach dem Massaker haben Neuseeländer aus allen Schichten freiwillig mehr als 5 Millionen Dollar für die Unterstützung der Opfer und ihrer Familien gespendet. Es ist eines unter vielen anderen spürbaren Beweisen von Trauer und Solidarität einer säkularen Gesellschaft, die sich um eine religiöse Minderheit in deren Stunde von Not und Leiden schart. Es ist ein Zeichen für die Resilienz dieses Landes, auch wenn es bis an seine Grundfesten erschüttert wurde. Tarrants todbringende Eskapade erweist sich schon jetzt als verlorener Kriegszug.
PD Dr. Douglas Pratt
Übersetzung: Prof. Dr. Angela Berlis