«Wir müssen helfen, solange wir helfen können»

Pandemie in den Verkündbüchern eines Pfarrers

Brief von Pfarrer Gaugler an die Sanitätsdirektion des Kantons Aargau, August 1918

Eigentlich wollte ich in unserem Pfarrarchiv in Hellikon, das vor kurzem dank unseres Archivars, Peter Hagmann, fachmännisch geordnet wurde, nur nachsehen, was vor 102 Jahren im Wegenstettertal so alles passiert ist. Damals, am 30. Juli 1919, wurde der Älteste des Wegenstettertales, Georg Sacher, geboren. Wenn Georg bei uns in den Gottesdiensten mitfeiert, fehlt ihm nie sein Humor, mit dem er alle in seinen Bann ziehen kann und wir sogleich spüren, dass er für eine Sache, wie etwa die Ökumene, richtig kämpfen kann. In der weiten Spanne seines Lebenshorizontes hat er schon viel gesehen, mitgetragen und durchgehalten. Mit alten Fotos, Briefen und Zeitungsausschnitten aus dem «Katholik» wollte ich für ihn ein paar Rosinen herauspicken und ihm zeigen, wie viele unserer heutigen Krisen schon vor hundert Jahren bekannt waren und eine Pandemie , die Menschen – und auch uns heute – schonungslos herausfordert, Christus an völlig ungewohnten Orten zu begegnen, bei Menschen, die verwundet, krank, suchend oder am Rand sind.

Als erstes kam mir ein Brief des damaligen christkatholischen Pfarrers von Wegenstetten, Hellikon, Zuzgen, Ernst Gaugler (1891 – 1963), in die Hände, der mich zunächst erstaunte. Der vor kurzem verstorbene Bischof Hans Gerny, von 1962 bis 1971 selber einmal Pfarrer in Wegenstetten, Hellikon, Zuzgen, hat seinen Vorgänger im Pfarramt dankbar als eine der «prägenden Figuren der Christkatholischen Kirche» genannt, der seine Vision von der «Kirche als Schutzhort der Freiheit» (IKZ 35, 1945) schon als Pfarrer zu realisieren suchte.

Sanitätspolizeiliche Einwände: Keine

Ich wusste ja, dass es die christkatholische Kirchgemeinde im Wegenstettertal nicht immer leicht hatte und mit vielerlei Konflikten kämpfen musste. Bei dem Streit mit den Römisch-Katholiken etwa ging es um die simultane Kirchgebäudenutzung in Wegenstetten, ein Hin und Her, das sich jahrzehntelang hinzog und sogar bis vors Bundesgericht weiter-gezogen wurde. Trotzdem konnte ich mir vom angegebenen Adressaten und vom gewählten Tonfall her keinen Reim darauf machen, bis ich merkte, worum es ging. Der Pfarrer schrieb an den Sanitätsdirektor des Kantons Aargau und forderte eine «umgehende Mitteilung»:

Hellikon, 12. August 1918

Aargauische Sanitätsdirektion, Aarau

Der Unterzeichnete bittet um umgehende Mitteilung, ob ein Wald-Gottesdienst am nächsten Sonntag gestattet sei. Zur Beförderung der Antwort durch Expressum liegt das Nachporto bei.

Mit Dank und Hochachtung, Ernst Gaugler, Pfarrer, Hellikon.

Am nächsten Tag kam die Antwort:

Zur Abhaltung eines Waldgottesdienstes sind keine sanitätspolizeilichen Einwendungen zu erheben. Der Sanitätsdirektor.

Warum muss ein Pfarrer beim Sanitätsdirektor des Kantons um Erlaubnis nachfragen? Einem kleinen tödlichen Virus gelang es vor hundert Jahren, die ganze Welt bis ins kleinste Tal zum Stillstand oder zumindest durcheinander zu bringen. Für viele Menschen war es eine bitterschwere Zeit. Es gab viele Opfer, Tote, Existenzbetroffene. Die Folgen aus dem Ersten Weltkrieg (1914 – 1918) waren noch nicht abgeklungen und die Spanische Grippe begann, sich weltweit rasant auszubreiten. Es starben an die 50 Millionen Menschen daran, was mehr Tote sind als während des ganzen Ersten Weltkrieges gestorben sind. Die Grippeepidemie mit dem Erreger Influenzavirus A/H1N1 dauerte von Januar 1918 bis Dezember 1920 und bestimmte alle Facetten des Alltags: Das Alte wird in Frage gestellt, Neues und Ungewohntes bricht sich Bahn, ohne dass man sich dies hätte lange überlegen können.

Schwere Grippeepidemie: Gottesdienst fällt aus

An der Spanischen Grippe Erkrankte in einem Pflegsaal.

Eigentlich war vor rund hundert Jahren alles wie heute. Mutmassungen, Legenden und Theorien wuchsen wie Schlingpflanzen und es hiess, die Influenza müsse von China nach Europa übertragen worden sein. Die Spanische Grippe, wie sie bald genannt wurde, soll auch von spanischen Seeleuten in die USA eingeschleppt worden sein. Die Karikaturisten stellten sie denn frech als diabolische, dunkelhaarige und grosse Südländerin mit Fächer in der Hand dar. Lesen wir die zeitgenössische Berichte, Briefe und Zeitungen, schüttelt man den Kopf. Es kommt einem so vor, als würde man die aktuellen Nachrichten hören: Kinos, Theater, Schulen müssen geschlossen bleiben, in den Gastwirtschaften werden die Fenster aufgemacht und man muss lüften, eine allgemeine Maskenpflicht wird vorgeschrieben und in den Städten wird dagegen demonstriert, die Gottesdienste dürfen nicht mehr abgehalten werden oder nur in reduzierter Form: «Am Dank-, Buss- und Bettag feiern wir eine Stille Messe, da wegen Grippe geschlossen. In Wegenstetten zählt man 40. In Hellikon über 20 Fälle» (3. Wegenstetter Verkündbuch, 15.9.1918). Und im Stakkato nur noch: «Gottesdienst in Z. fiel wegen Grippe aus» (3.WVB, 17.11.18).

Die damalige Pandemie stellte den jungen Pfarrer vor grosse Probleme. Bei aller Not versuchte er, Hilfsprogramme zu verwirklichen und die gemeinsamen Gottesdienste kurz zu gestalten oder ausfallen zu lassen: «Ich hielt einstweilen nur einen ganz kurzen Messgottesdienst allein mit dem Sigristen, weil nach bundesrätlicher und regierungsrätlicher Entscheidung alle öffentlichen Gottesdienste untersagt waren. Eine schwere Grippe-Epidemie raffte in unserem lieben Schweizerland über 400 Soldaten und viele Hunderte von Zivilpersonen dahin, mehr als der ganze Sonderbundskrieg (1847) gekostet hat. Und noch immer ist die Krankheit nicht ganz gewichen. O Gott, erhöre unsere Bitten im allgemeinen Gebet. Verschone uns gnädiglich» (3 WVB, 21.7.1918).

Die «Spanierin» auf der zweiten, dritten und vierten Welle

Es gibt wie heute auch die Hoffnung, dass der Sommer die Ausbreitung der «Spanierin», wie die Pandemie auch genannt wurde, stoppt. Gleichzeitig wird vor einer zweiten Welle gewarnt, diese kommt dann auch im Herbst mit ganzer Kraft, gefolgt von einer dritten und vierten Welle. «Alles wird besser», hiess es und dennoch hörte man von Opfern, Stummfilmschauspieler starben, Bürgermeister und auch der Immobilienunternehmer Friedrich Trump aus der Pfalz in Deutschland, der Grossvater des ehemaligen US-Präsidenten, wurde in New York von der «Spanierin», dahingerafft, ebenso der Schriftsteller Franz Kafka – im Wegenstettertal waren es vor allem ältere Menschen und solche um die fünfzig.

Wegenstetter Verkündbuch: Ein Schatzkästchen

Am Ende des Gottesdienstes hören wir meist Mitteilungen. In Ihnen kann die Pfarrerin oder der Pfarrer wichtige und aktuelle Geschehnisse verlauten lassen. Es ist auch eine Möglichkeit, die eigene, vielleicht sehr persönlich Position darzustellen und Neuerungen zu erklären. Im Archiv sind aus der Kriegs- und Pandemiezeit vor hundert Jahren handschriftliche «Verkündbücher» aufbewahrt, in denen sich neben der Bekanntgabe der nächsten Gottesdienste und Bibelstellen der Predigten sehr interessante Angaben zum Leben in der Kirchgemeinde nachzulesen sind. Es sind sorgsam mit Tinte geschriebene Dokumente und wer sie liest, könnte fast den Pfarrer vor sich sehen, so als liesse sich jemand aus unseren Tagen, wie etwa Bundesrat Alain Berset hören: «Seien sie vorsichtig, schütteln sie keine Hände mehr und gehen sie zum arabischen Salem Aleikum über und verneigen sich nur noch!» Viele Leute in der Schweiz dachten vor hundert Jahren in der Not zunächst an sich, sie deckten sich mit Aspirin ein und zwielichtige Apotheker machten mit falschen Medikamenten ein Riesen- geschäft. Alkoholische Getränke fanden reissenden Absatz, mit allerlei Destillaten wie Grog, Kirsch, Rum oder Glühwein wollte man die Grippe auskurieren und in Grossbritannien wurde – wie könnte es nicht anders sein – bester Whisky sogar auf Rezept abgegeben. Manche riskierten gar allein schon bei einem Reizhusten Opium und Kokain zu konsumieren.

Kirche als Schutzhort der Freiheit

Der Theologe Karl Barth

Wir erleben in den Verkündbüchern mit, wie «die Kirche Schutzhort der Freiheit» (IKZ 35, 1945) geworden ist, wie es Ernst Gaugler sah, der von 1916 bis 1924 christkatholischer Pfarrer im Wegenstettertal war und den Krieg und die Spanische Grippeepidemie hautnah miterlebte. Einige Pfarrpersonen wehrten sich vehement gegen die Abriegelung vor der Not der anderen und waren wie eine Mauer gegen das, was Leben zerstört.
Ernst Gaugler war zur selben Zeit im Kanton Aargau als Pfarrer tätig, wie der um ein paar Jahre ältere «rote Pfarrer von Safenwil», der reformierte Theologe Karl Barth (1886 – 1968). Beide waren streitbare Pfarrer, beide waren mit der Not in ihren Gemeinden konfrontiert und wollten mit dem Wort Gottes leidenschaftlich ernst machen. Beide wollten das Wort Gottes nicht bloss verkünden, sondern gewissenhaft, verantwortlich und gewichtig in den Mund nehmen. Seit Karl Barth im Römerbrief eine absichernde Antwort zu den Fragen seiner Zeit fand und mit seinem Römerbriefkommentar (1919/1922) ein theologisches Erdbeben auslöste, schrieb Ernst Gaugler nach 1919 in den Verkündbüchern plötzlich viele Predigtverweise auf den Römerbrief (3. WVB, 8.6.19; 4.7.20; 2.1.21; 25 9.21, 9.10.21: R1,16; 28.10.21). Der Apostel Paulus macht für die beiden Aargauer Pastoren klar, wie unerbittlich konkret das Wort Gottes in den Alltag übersetzt werden muss – Gottes Wort und Menschenwort gilt es immer mehr zusammenzubinden.

Krieg und Pandemie als Boden der Theologie

Ernst Gaugler studierte in Bern, Berlin und Marburg. Wenn er von 1924 bis 1960 Professor für Neutestamentliche Wissenschaft, Homiletik und Katechetik an der Christkatholisch-theologischen Fakultät der Universität Bern wird, merkt man in vielen seiner Schriften, wie sehr ihn die schwere Zeit des Krieges und der Pandemie im Kanton Aargau geprägt hat. Was vor dem Ersten Weltkrieg von einer streitbaren Glaubensverkündigung noch gültig war, der scheinbar alles gelang, war nach dem Krieg und nach der Pandemie nichts mehr übrig geblieben. Es war in den 20er Jahren in Sachen Exegese noch nicht ausgemacht, in welche Richtung die Bibelauslegung sich bewegen wird. Gaugler skizzierte wie mit dem Silberstift genau, dass er eine historisch-kritische Exegese verfolgen wird, die er im Dialog mit der Patristik – den Kirchenvätern – und der Ökumene und dem Diktat der Stammtische, weiter entwickelte: Verstehen mich die Leute? muss sich jeder immer wieder fragen. Ein besonderes Anliegen war Ernst Gaugler die jüdische Theologie, was besonders in seinen beiden Römerbriefkommentaren (1945/52) zum Ausdruck kommt, denn er schaute hin, wo andere in einer wohl «nicht bewussten Unempfindlichkeit,» wie verblendet wegschauten, so fragt sich der reformierte Pfarrer Thomas Scheibler in seiner Dissertation über einen Teil des zweibändigen Römerbriefkommentares von Ernst Gaugler, der noch viel zu wenig rezipiert wurde.

Ernst Gaugler: Christkatholischer Barthianer

Wenn Ernst Gaugler Jahre später in seinem Hauptwerk «Der Brief an die Römer» viele seiner Gedanken schon früh grundgelegt hat und in den Fragen der Ökumene, christlicher Spiritualität, Jüdischer Theologie und dem Antijudaismus seine Sicht über den Blick von Karl Barths Römerbrief hinausweitet, merkt man, dass Gaugler hier eine ganz eigene Theologie entwickelt hat, die die Barthsche Schalung nie verleugnet hat. Die soziale Ungleichheit, Ungerechtigkeit und Armut sind nicht in Stein gemeisselt und nicht unabwendbar. Wir können diese Zustände überwinden und wenn wir selber anpacken müssen, das waren für Barth und Gaugler nicht bloss fromme Sprüche. Gaugler war in diesem Sinne ein «christkatholischer Barthianer,» wie 2018 der altkatholische Theologe Andreas Krebs in einem Vortrag in Bonn aufzeigte.

Er wollte unmittelbar und konkret anfangen. Er stemmte sich dagagen, dass die Kirche ein Wartesaal für missliebige Probleme wird. «Heute» hiess die Überschrift einer seiner Neujahrspredigten. Gaugler kümmerte sich um vom Unglück Betroffene im Tal, Flüchtlingskinder, Soldaten, Notleidende und Kindern aus den Städten mit diversen Hilfsaktionen: «In der schwierigen Zeitlage, sollten nicht wir alle, die wir bisher von allem Leid, das so viele betroffen, verschont geblieben sind, gerne helfen wollen? Im Tal wird eine Haussammlung veranstaltet. Wir bitten, diese kräftig zu unterstützen (3. Wegenstettertaler Verkündbuch» 1917 – 1922, 17.2.1918).

Liebesdienst als Brücke zwischen Stadt und Land

Es war im Wegenstettertal deutlich erkennbar, dass es einen Stadt und Landgraben gab und die einen den anderen helfen mussten, wozu Gaugler als Pfarrer deutliche Worte fand. Ein eigens einberufenes Komitee suchte nach Unterstützungsquellen und dabei gelangten sie mit Anfragen an Pfarrer Ernst Gaugler: «Die Not in unseren Städten ist gross. Wir müssen helfen, solange wir helfen können. Jeder, der ein kleines tut, arbeitet mit an der Zukunft unseres Landes» (3. WVB, 23.6.1918 und dasselbe wiederholt er am 18. Juni 1918,).

Besonders suchte er in seinen eindringlichen Aufrufe, die Kinder zu unterstützen – ganz egal woher sie kamen: «Die Not der Armen der Städte ist gross, es möge doch jeder tun, was er kann, um der jungen Generation unseres Landes zu helfen» (3. WVB, 26.5.1918). Dabei stoppt er Kritik, wenn er hört, dass man lieber notleidende Schweizer Kinder als Ferienkinder aufnimmt, als ausländische Kinder abweist. Er nimmt das Heft selber in die Hand und sagt auch, dass er dies schon selbst im Pfarramt übernehmen werde. Eindringlich ruft er dazu auf, für Kinder Raum zu schaffen. Er selber will dafür einstehen und schreibt, dass jedes Kind gut ist: «Ich möchte nochmals auf die Unterbringung von Ferienkindern aufmerksam machen. Lassen sie sich durch unangenehme Erfahrungen nicht abhalten, den Kindern einen Liebesdienst erweisen» (3. WVB, 13.7.1919).

Bischof Eduard Herzog: Spiritualität, Aufbau, Reform

Ernst Gaugler hatte schon Erfahrungen in der Seelsorge sammeln können, ehe er ins Fricktal kam. Starke Impulse und Rückendeckung für den Aufbau und die ausgleichenden Reformschritte einer Kirchgemeinde erhielt er von Bischof Eduard Herzog (1841 – 1924). Es ging darum, die Freiwilligenarbeit und die Vereinsgründunge und die Arbeit in den Vereinen zu fördern, als im Wegenstettertal die Anfragen dazu kamen, um dem Vereinswesen gleich neue Aufgaben zuzuweisen, so Bischof Eduard: «Ich wünsche sehr, dass sie überall die nötige moralische Anregung und Unterstützung finden» (Bischof Dr. Eduard Herzog, ein Lebensbild von Walter Herzog, 1935, 158). So setzte Pfarrer Gaugler einen weiteren Schwerpunkt in den Musikvereinen und dem gemeinsamen Singen, wie es Herzog empfohlen hatte, womit sich Reformen in den Gottesdiensten leichter umsetzen liessen.

Im Zusammenhang mit einem Geschenk von gebrauchten Gesangsbücher von anderen Gemeinden schrieb Gaugler: «Ich bitte alle, bei den Gemeindeliedern kräftig mitzusingen. Es kommt beim Kirchengesang nicht so sehr darauf an, dass man schön singen kann, als dass man mit Liebe zu Gott, zu seiner Ehre und zur Erbauung der Gemeinde freudig mitsingt» (3 WVB, 8.1.1022).

Gute Bilder und eindringliche Predigten

Dabei kam es auch darauf an, mit allen Kräften, die Möglichkeiten einer Unterstützung der Gemeindearbeit deutlich darzustellen, gerade dann, wenn jemand sich klammheimlich der Pflichten zum Zusammenstehen entledigen wollte: «Wie ich aus mir zugesandten Abonnementen-Listen ersehe, haben seit Kriegsbeginn einige Familien den ‚Katholik‘ refusiert. Ich möchte die Betreffenden und andern Nichtabonnenten dringend bitten, unser Gemeindeblatt zu halten. Es ist eine Ehrenpflicht eines guten Christkatholiken, ein Blatt, das ohnehin immer mit Schwierigkeiten zu kämpfen hat, in der schwierigen Zeit nicht noch zu schädigen, sondern so kräftig wie möglich zu unterstützen» (3. WVB, 2.12.1917).

Dazu nutzte Ernst Gaugler auch die Möglichkeiten der Kunst, wo er moderne erzieherische Leitlinien einfügt. Er machte deutlich, wie wichtige es sei, die künstlerischen Gestaltungformen trotz der Kriegszeit zu fördern, denn davon könnten alle profitieren : «Trotz der Kriegszeit, die dem Kalendermann einige Kürzungen auferlegte, bietet der Christkatholische Hauskalenders von 1917 viele Gediegenes und wirklich Lesenswertes. Die Bilder stammen von den besten christlichen Künstlern. Es wäre eine Ehre für uns, wenn wir auch in dieser bösen Zeit Sinn für so gute Kunst hätten. Ein gutes religiöses Bild sagt einem offenen Herzen manchmal mehr als eine eindringliche Predigt» (3. WVB, Allerheiligen 1917 – die Heiligen – Helden des Gewissens, des Glaubens, der Liebe).

Andachtsbuch von Bischof Eduard Herzog

In den Wegenstetter Verkündbüchern lesen wir ebenfalls von einer Reihe verschiedener Vorträge, die man heute unter «Erwachsenenbildung» einreihen könnte und er hatte sehr moderne Positionen vertreten. Er öffnete ein Eingangstor für die «Theologie für mein Leben» wie etwa im «Vortrag im Gemeindesaal: „Gott im Alltagsleben“ von Frau Gut-Stocker (3. WVB, 5.10.19) oder „Unsere christkatholische Kirche, ihre Entstehung, Grundlage und innere Aufgabe“ Vortrag von Ernst Gaugler» (3. WVB, 30.11.19).

Bischof Eduard suchte mit seinem «Andachtsbuch» schon zu Beginn seiner Tätigkeit einen Rahmen für eine Spiritualität abzustecken in und nach der Krise Gedacht für Menschen, wenn Sie einen Halt, eine Orientierung suchen, allein oder nur im kleinen Kreis. Ein «Erbauungsbuch», das als Absicherung im Glauben gelesen, gebetet, werden kann. Gaugler machte die Probe aufs Exempel bei Gottesdiensten, die ausfielen oder nicht mehr stattfanden und empfahl das Andachtsbuch von Herzog: «Heute ist der letzte der Kriegsgottesdienste, der stattfindet, Auf mehrfach geäusserten Wunsch hin, kam die Kirchenpflege in ihrer letzten Besprechung zu dem Ergebnis, dass dieser Gottesdienst, da der sehr schwache Besuch zeige, dass es kein Bedürfnis mehr sei, fallen gelassen werden solle. Wir hoffen sehr, dass dadurch niemand seiner sonntäglichen Andacht beraubt werde und es recht viele seien, die dennoch auch an Sonntagen, da hier kein öffentlicher Gottesdienst stattfindet, die stille Andacht in der heiligen Schrift oder im Andachtsbuch unseres Bischofs Eduard Herzog (1841- 1924) suchen und finden« (3. WVB, 6.4.1919).

Pandemie und Krieg als Kairos: Nachdenken am Brunnen

Die «schwere Zeit», wie sie in der Wegenstetter Verkündbüchern zu Tage tritt und sich überraschend aktuell anhört, zwang die Christinnen und Christen vor hundert Jahren, über das Wort Gottes und die Gottesdienste, wie sie sie bisher kannten, nachzudenken. Um die «Feiergestalt» des Abendmahls zu erhalten, war oft «nur» eine Wort-Gottes-Feier möglich. Weil nicht genügend – damals nur – Pfarrer zur Verfügung standen, beziehungsweise gesund waren und nicht in Quarantäne und bei einigen Gottesdiensten zu wenig Besucher kamen, mussten Gottesdienste reduziert oder in anderer Form gefeiert werden. Eine neue Form zu der Pfarrer Gaugler vorschlug, an anderen Orten mit dem Andachtsbuch von Bischof Eduard Herzog Gottesdienst zu halten.
Die Pandemie und die Kriegszeit waren für das Wegenstettertal ein Kairos, ein Zeitpunkt, eine Gelegenheit, den Krug mit all den vielen Möglichkeiten und Talenten der Menschen zu füllen und in den Brunnen zur Quelle hinabzulassen.

Es hört sich so einfach an, was Pfarrer Gaugler in den Verkündbüchern schrieb: «Alle rufe ich auf, sich mit Ihren Teil einzubringen: Wir müssen helfen, solange wir helfen können». Wenn man ein neues Selbstverständnis des Christinsein und Christsein in der Welt zulässt, gelingt es, dass sich die Welt, die sich radikal verändert, zum Guten verwandelt! Der älteste 102-jährige Wegenstettertaler, Georg Sacher, macht uns Mut, dass wir uns aufmachen, unsere Welt zu gestalten – nicht weil wir es allein schaffen würden, sondern weil wir miteinander Christus dem Auferstanden begegnen, der mit uns ist. Den Weg dorthin kennen wir doch – oder nicht? Als man Ernst Gaugler einmal fragte: «Woran werden Sie Christus wiedererkennen, wenn er denn wiederkommt?», antwortete er: «An seinen Wunden – den Wunden des Körpers, den Wunden der Welt!»

Niklas Raggenbass