Als Bernerinnen und Berner die Unfehlbarkeit des Papstes ablehnten

Interview mit Prof. Dr. Angela Berlis über die Folgen der vatikanischen Dogmen von 1870

Vor 150 Jahren weigerten sich Katholikinnen und Katholiken, das Dogma der Unfehlbarkeit des Papstes anzuerkennen. In der Folge kam es in einem längeren Prozess zur Formierung der Christkatholischen Kirche. Angela Berlis, Kirchenhistorikerin an der Uni Bern, erklärt, wie es dazu kam.

«Johann Baptist Egli, Strafhauspfarrer in Luzern, war bereits im März 1871 als erster Priester in der Schweiz exkommuniziert worden», sagt Angela Berlis,
ordentliche Professorin für Geschichte des Altkatholizismus an der Uni Bern. Foto: Pia Neuenschwander

«pfarrblatt»: Was führte vor 150  Jahren dazu, dass viele römisch-katholische Bernerinnen und Berner christ­ka­tho­lisch wurden?
Angela Berlis: Das hing mit der Rezep­tion des Ersten Vatikanischen Konzils von 1870 zusammen. Hier wurden die Unfehlbarkeit des Papstes und sein Rechtsprimat zur Glaubenslehre erhoben. Viele Katholikinnen und Katholiken, auch in der Schweiz und in Bern, konnten diese Dogmen nicht mittragen.

Was ist der Rechtsprimat des Papstes?
Beim Rechtsprimat geht es unter anderem darum, dass der Papst das Recht hat, Bischöfe zu ernennen. Erst aufgrund dieses Primats konnte die römisch-katholische Kirche so zentralisiert werden, wie sich das im Kirchengesetzbuch von 1917 und heute im CIC 1983 spiegelt. Der Rechtsprimat ist das folgenreichere Dogma. Im 19. Jahrhundert ging es jedoch vor allem um die Unfehlbarkeit des Papstes.

Vor dem Ersten Vatikanischen Konzil wurden Bischöfe also nicht durch den Papst ernannt?
Richtig, die Schweiz kennt ja noch immer die Tradition, dass der Bischof von Basel beispielsweise durch das Domkapitel gewählt und vom Papst bestätigt wird. In der frühen Kirche war es so, dass das Volk und die Geistlichkeit einer Ortskirche den Bischof gewählt haben.

War das überall so?
Vor dem Ersten Vatikanum wurde die Mehrheit der Diözesanbischöfe auf irgendeine Weise gewählt. Der Papst hatte allerdings das Recht, diese Wahl zu bestätigen. Nach dem Vatikanum wurde das System umgedreht und werden Diözesanbischöfe durch den Papst ernannt, mit einigen Ausnahmen wie in Basel oder Köln.

Wie reagierten Schweizer Katholikinnen und Katholiken auf die Dogmen des Konzils?
Für die Schweiz war der angesehene Münchner Kirchenhistoriker Ignaz von Döllinger wichtig, der unter Pseudonym schon während des Konzils dargelegt hatte, dass die Unfehlbarkeit des Papstes weder von der Bibel noch von der Tradition her begründet werden könne. Dafür wurde er im April 1871 exkommuniziert. Das schlug auch in der Schweiz hohe Wellen. Johann Baptist Egli, Strafhauspfarrer in Luzern, war bereits im März 1871 als erster Priester in der Schweiz exkommuniziert worden.

Gibt es so etwas wie einen Startschuss für die Trennung der alt- oder christkatholischen von der römisch-katholischen Kirche?
Es war in der Schweiz ein längerer Prozess zwischen 1870 und 1876, der zur kirchlichen Eigenexistenz führte. Im September 1871 gab es einen «Katholikenkongress» in München, zu dem auch Schweizerinnen und Schweizer delegiert wurden, und der einige Positionen programmatisch festhielt. Die Alt-Katholikinnen und Katholiken begründeten ihre Ablehnung der Unfehlbarkeit des Papstes mit dem Gewissen: Im Bewusstsein der religiösen Pflichten könne man das aus dem Gewissen heraus nicht mittragen. Heute würde man das «sensus fidelium» nennen (lat. für «Glaubenssinn der Gläubigen»).

Ging es nur um das Dogma der Unfehlbarkeit oder waren weitere Reformen Thema?
Das Verhältnis von Geistlichen und Laien – damals bezog sich das faktisch auf die Männer – war ein wichtiges Thema. Laien sollten auch religiös Mitverantwortung tragen, zum Beispiel bei Synoden und bei der Wahl des Bischofs. Ausserdem wollte man die vielen Feiertage zugunsten einer stärkeren Zentrierung auf Christus reduzieren. Viele dieser Reformen, wie etwa die Volkssprache oder die Christusbezogenheit, wurden von der römisch-katholischen Kirche im Zweiten Vatikanischen Konzil ebenfalls aufgegriffen.

Was wurde dennoch beibehalten?
Die christkatholische Bewegung verstand sich als katholisch, man wollte reformieren, nicht einfach abschaffen. Man hielt am dreifachen Amt von Diakon, Priester, Bischof fest, befürwortete synodale Strukturen auf allen Ebenen der Kirche. Was den Dienst des Bischofs von Rom angeht, so bejahte man ihn wie in der alten Kirche, sofern der Papst ihn als «der Erste unter Gleichen» ausüben würde.

Wie kam es zu den beiden Namen altkatholisch und christkatholisch?
«Altkatholisch» ist der ältere Begriff, er betont das, was die alte katholische Kirche glaubte. «Christkatholisch» war damals ein viel verwendetes Wort für «katholisch». Den Schweizer:innen war der Bezug zu Christus als Haupt der Kirche wichtig.

Am 9. Dezember 1872 hielt der deutsche Theologieprofessor Josef Hubert Reinkens eine Rede in der Heiliggeistkirche in Bern. Wer war das?
In der Schweiz hatten manche den Eindruck, es fehle der christkatholischen Bewegung an der religiösen Dimension. Reinkens wurde eingeladen, um der keimenden Bewegung in der Schweiz «die religiöse Direktive» zu geben. Er war Professor für Alte Kirchengeschichte in Breslau, hatte sich schon früh gegen das gegen die neuen Papstlehren ausgesprochen und wurde bald zu einer führenden Gestalt. Am 1. Dezember 1872 referierte er in Olten, acht Tage später in Bern. In der Geschichte der Christkatholischen Kirche der Schweiz wurde der 1. Dezember viele Jahrzehnte lang als «Oltener Tag» festlich begangen. Heute wird weniger dieses Ereignis, als stärker der Prozess betont, in dem die kirchliche Eigenexistenz sich formierte.

Wie war es in Bern?
In Bern war die Mehrheit der Katholikinnen und Katholiken nicht bereit, die Unfehlbarkeit und den Rechtsprimat des Papstes zu bejahen.

Kirche Peter und Paul, Bern

Deshalb wurde auch die Kirche Peter und Paul eine christkatholische.
Diese Kirche war erst 1864 fertig gestellt worden. Der römisch-katholische Pfarrer musste den Schlüssel abgeben und andere Orte für die Gottesdienste suchen. Für die mit Rom loyalen Katholikinnen und Katholiken war das sehr schmerzhaft, denn durch die Kirche Peter und Paul waren die Katholikinnen und Katholiken erstmals seit der Reformation wieder mit einer eigenen Kirche in Bern sichtbar. Bis die Dreifaltigkeitsbasilika gebaut wurde, dauerte es nochmals gut zwanzig Jahre.

Hätte man die Kirche Peter und Paul nicht gemeinsam nutzen können?
Nein, denn der Papst hatte eine Bulle erlassen, die die gemeinsame Nutzung von Kirchen untersagte. Noch 2009, als ich nach Bern kam, sagte mir ein Mann: «Ihr habt ja unsere Kirche übernommen.» Diese Wahrnehmung weckt mein Interesse. Denn auch die ChristKatholikinnen und Katholiken haben sich als Katholikinnen und Katholiken verstanden. Sie hatten sich ja nicht verändert.

«Katholische Kirche am Scheideweg» heisst das Symposium zum 150 Jahr-Jubiläum. Das klingt aktuell. Sehen Sie Parallelen zwischen damals und heute? 
Auch heute geht es in der römisch-katholischen Kirche um die Stellung des Papstes und die Langzeitfolgen der Dogmen des ersten Vatikanischen Konzils. Das zeigt sich beim Synodalen Weg in Deutschland: Manche grenzen sich stark von diesem Reformprojekt ab, andere sagen, dass die Kirche sich bewegen muss; das nehme ich als etwas Positives wahr. Ich sehe aber auch Stolpersteine auf diesem Weg, die wir Christkatholik:innen so nicht mehr haben.   

An welche Stolpersteine denken Sie? 
Die Mitverantwortung der Lai:innen halte ich für eine enorm wichtige Frage. Schon in den frühen christkatholischen Texten wird festgehalten, dass Lai:innen mit Geistlichen auf Augenhöhe sein sollen. Dies nicht nur in der Verwaltung, sondern auch in religiösen Fragen: Welche Vision von Kirche haben wir? Welche Ausstrahlung wollen wir als Kirche? Diese Mitverantwortung von Lai:innen sollte zudem rechtlich verankert sein.  

Wie sieht diese Verankerung in der christkatholischen Kirche heute konkret aus? 
Im Schweizer Bistum wird der Bischof durch die Synode gewählt. Zwei Drittel der Synodenmitglieder müssen Lai:innen sein, ein Drittel stellen die Geistlichen. In anderen altkatholischen Kirchen kann das Zahlenverhältnis variieren, aber der Grundsatz «auf Augenhöhe» gilt überall. Das ist einer der Reibungspunkte des Synodalen Weges.  

Wie schätzen Sie die Erfolgschancen des Synodalen Weges ein? 
Ich glaube, er hat gute Karten, weil er gut begründet ist. Das Erste Vatikanum hat zu einer  Zentralisierung geführt. Aber die römisch-katholische Kirche hat eine längere Tradition als die letzten 150 Jahre. Früher konnte das Volk bei der Wahl ihrer Bischöfe mitwirken. 

Angenommen, die römisch-katholische Kirche setzt solche Reformen um. Halten Sie eine Wiedervereinigung der beiden katholischen Kirchen für denkbar? 
Diese Frage wurde vor einigen Jahren in einer internationalen Dialog-Kommission diskutiert. Für Christkatholik:innen, wie für andere christliche Kirchen auch, wäre es jedoch inakzeptabel, wenn der Bischof von Rom auch für uns unfehlbar wäre. Ein Dogma ist eine Lehre, die man zu glauben hat. Als Christkatholikin möchte ich jedoch sagen können: Nein, daran glaube ich nicht.  

In Deutschland treten römische Katholik:innen vermehrt zur christkatholischen Kirche über. Ist die christkatholische Kirche ein Auffangbecken für enttäuschte römische Katholik:innen? 
In der heutigen Situation sollten wir froh sein, wenn Leute überhaupt christlich bleiben wollen. Und dass Menschen ihrem eigenen Gewissen folgen wollen – in beide Richtungen – kann man doch eigentlich nur unterstützen. . Im Vergleich zu Deutschland ist der Leidensdruck in der Schweiz wohl kleiner, weil die römisch-katholische Kirche hier mit dem dualen System stärker von der Basis her organisiert ist.  


Das Interview führte Sylvia Stam
Redaktorin, Pfarrblatt Römisch-Katholische Kirche Bern