«Auch Du, mein Sohn Brutus!»

Tyrannenmord gegen unmenschliche Gewalt

Szene des Mordes an Caesar. Fresko in Rom. Bild: Dezalb auf pixabay.

Wenn ich das Wort «Tyrannenmord» höre, denke ich an unseren Lateinlehrer. An jedem 15. März trug er eine schwarze Krawatte und wir wussten, es gibt sicher keine Prüfung. Pater Hermann Schmid hatte damit erreicht, dass uns allen bis heute im Gedächtnis geblieben ist, dass an den Iden des März, am 15. März 44 vor Christus der römische Staatsmann Julius Caesar von einigen Senatoren, auch solchen, die ihm nahestanden, ermordet wurde. Ebenfalls Brutus gehörte dazu, dem Caesar väterlich verbunden war. Daher – so lernten wir – die Redewendung: «Auch Du, mein Sohn Brutus»! Und dies bedeutet, dass auch jemand, der einem nahesteht, sich gegen uns wenden kann und uns im Stich lässt.

Tyrannos – ein griechisches Wort

Bei der Ermordung Caesars geht es um einen «Tyrannenmord». Zwei Dinge sind dabei oft nicht klar: Was ist ein Tyrann und ist ein Mord erlaubt, wenn man damit vielleicht das Leben anderer retten könnte? Ein «Tyrannos» ist im alten Griechenland nicht allein ein Staatsmann, der seine Ziele mit Gewalt und als Alleinherrscher durchsetzen will, sondern das Besondere am «Tyrannos» ist auch, dass er sich die Herrschaft oder Teile der Befugnisse im Staat auf ungesetzlichem Weg angemasst hat.

Gerechtfertigter Mord?

Könnte ich einen Politiker, der mir wie ein Tyrann vorkommt, von dem ich den Eindruck habe, er masse sich etwas Unmenschliches an, doch einfach niederknallen! In den letzten Monaten habe ich mich oft dabei ertappt, dass ich mir den Tod von all den Kriegstreibern wünsche. Ist die Tötung eines Tyrannen aber gerechtfertigt? Ob ein Herrscher als legitimer König oder brutaler Usurpator bezeichnet wird, hängt vom politischen Erfolg ab. Ob Tyrann oder legitimer König: Der Erfolgreiche kann die Geschichtsschreibung bestimmen.

Ein paar Wegstationen entlang der Geschichte zum Tyrannenmord können uns darlegen, wie zeitabhängig und vielschichtig alle Aussagen zum Tyrannenmord sind. Die Frage ist immer, auf welcher Seite ich stehe und wie frei oder wie gebunden ich bin. Wer würde zur Herrscherzeit von Adolf Hitler etwas gegen den Diktator gesagt haben wollen? Es würde ihn den Kragen gekostet haben.

Im 4. Jahrhundert vor Christus suchten die griechischen Philosophen nach Begründungen, ob der Tyrannenmord ein gerechtfertigtes Mittel zu Befreiung der Bürger sei. Bei der bis heute schwierigen ethischen Frage muss man sich auf eine Abwägung einlassen: Ist es schwerer zu verantworten, ob die Bürger Gewalt und Unterdrückung durch einen Tyrannen erleiden müssen oder ob die Bürger die Schuld eines Mordes auf sich laden?

Der Philosoph Aristoteles rechtfertigte die Tötung eines Tyrannen ohne Wenn und Aber. Dieses Attentat sei nicht nur straffrei, sondern auch zu begrüssen. 400 Jahre später widerspricht der lateinische Kirchenschriftsteller Tertullian und schliesst den Tyrannenmord in jedem Fall aus. Weitere 1000 Jahre später, in der mittelalterlichen Scholastik, äussert sich der Dominikaner Thomas von Aquin zum Tyrannenmord. Er musste eine Hürde überwinden, die lange Zeit als unantastbar galt: Ein Widerstandsrecht gegen die Obrigkeit war nicht vorgesehen. Die christliche Tradition sah die weltliche Obrigkeit entweder als Geschenk oder Geissel Gottes an (Römerbrief 13, 1-7 und Erster Petrusbrief 2, 13-17). Der Aquinate hat eine Tür geöffnet, indem er einen gewaltsamen Widerstand für erlaubt ansah, wenn die Tyrannei ein unerträgliches Mass erreicht hat, keine gewaltfreien Mittel zur Verfügung stehen oder keine Hilfe einer höheren Stelle gegeben ist. Derjenige Herrscher, gegen den Widerstand eingesetzt werden darf, ist dabei dann ein Tyrann, wenn er Zwietracht und Aufruhr ins Volk bringt und das Gemeinwohl veruntreut. Thomas differenziert weiter, dass man gegen einen rechtmässig an die Macht gekommenen Tyrannen in keinem Fall aus privater Anmassung, sondern nur durch legitimierte öffentliche Autorität vorgehen darf. Ist eine legitimierte öffentliche Autorität vorhanden, dann darf ein Tyrann mit allen Mitteln bekämpft und im Extremfall auch getötet werden. Thomas legte daraus die Prinzipien des «gerechten Krieges» dar.

In der Neuzeit setzt sich die rechtsphilosophische Auffassung durch, dass es unter gar keinen Umständen erlaubt sei, einen Tyrannen zu töten. Der englische Staatstheoretiker Thomas Hobbes (1588-1679) war hier federführend und er sagte, man müsse jedes Staatswesen als eine Gemeinschaft aus Herrschern und Beherrschten ansehen, in der die Beherrschten durchaus das Recht haben, das Gebaren eines Herrschers in Frage zu stellen, doch nie ihn umzubringen. Vielmehr müsse der eventuell Fehlbare einer allgemein akzeptierten Gerichtsbarkeit zugeführt werden. Dieser Grundgedanke von Hobbes ist bis heute gültig geblieben.

Doppelschneidiges Widerstandsrecht

Verschiedene Staatstheoretiker setzten sich in der frühen Neuzeit für ein Recht des Volkes zum Widerstand gegen einen zwar legitimen, aber seine Macht missbrauchenden Herrscher ein. Immanuel Kant misstraute dem Widerstandsrecht: Es könne leicht zum Vorwand Einzelner werden, sich gegen den Staat zu stellen. Die Amerikanische und die Französische Revolution mit all ihren Folgen mischten die Karten des Tyrannenmordes neu und gaben Kant recht. Mord gehörte mehr und mehr zum politischen Geschäft.

Im unruhigen 19. Jahrhundert, als die politische Landkarte Europas neu gemischt wurde, machte mit dem Anarchismus eine Ideenlehre Schlagzeilen, die die Herrschaft von Menschen über Menschen und jede Art von Hierarchie als Form der Unterdrückung radikal ablehnt und zu zahlreichen politischen Morden führte. Der Anschlag auf Zar Alexander II., der 1881 bei einem Bombenanschlag ums Leben kam, ist einer unter einer ganzen Reihe von Attentaten. Es zeigte sich, wie ein Tyrannenmord in den revolutionären und kriegerischen Ereignissen der kommenden Jahre als politisches Instrument eingesetzt werden konnte, bei denen es nicht möglich war, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen, weil auch die ganzen Rechtssysteme ausser Kraft gesetzt wurden.

Attentat gegen Adolf Hitler

Die Rechtmässigkeit eines Widerstandes gegen den Nationalsozialismus und gegen den Führer Adolf Hitler ist auch innerhalb der Widerstandsgruppen gegensätzlich diskutiert worden. Sollte man mit Gewalt auf Gewalt antworten? Es gab Widerstandskämpfer, die dies radikal ablehnten. Um 1942 haben sich Militärpersonen wie Hennig von Tresckow und Claus Schenk Graf von Stauffenberg positiv zum Tyrannenmord gestellt. Nach dem Attentatsversuch auf Hitler vom 20. Juli 1944 hielten immer mehr Menschen das Attentat für gerechtfertigt – die Attentäter seien in einer Nothilfesituation gestanden. Der evangelische Theologe Dietrich Bonhoeffer, den man als Mitverschwörer des 20. Juli verhaftet und hingerichtet hatte, wurde von einigen Kirchenvertretern kritisiert. Seine Begründung des Tyrannenmordes hielt man für christlich nicht zulässig. Was tun, wenn die Machthaber andere an Leib und Leben bedrohen? Sich erschiessen lassen?

Bonhoeffer kommt im Widerstand gegen die Nazis zu einem fundamentalen Grundsatz: «Wenn die Kirche den Staat ein Zuviel oder ein Zuwenig an Ordnung und Recht ausüben sieht, kommt sie in die Lage, nicht nur die Opfer unter dem Rad zu verbinden, sondern dem Rad selbst in die Speichen zu fallen».

Antiker Tyrannenmord und Terrorismusbekämpfung

In den letzten Jahrhunderten können wir in Europa einen «Pazifizierungsprozess» festmachen – eine Friedensbewegung. Es ist auch eine Lerngeschichte, die zu einer genauen Auffassung von Menschenrechten geführt hat. Eine Tötung – dazu gehört der Tyrannenmord – ist in unserer westlichen, christlich geprägten Welt moralisch nur dann legitim, wenn sie der Selbstverteidigung oder der Rettung eines anderen Menschenlebens dient. Es muss eine akute Bedrohungssituation für Leib und Leben bestehen. Moralisch rechtfertigen lässt sich eine Tötung nur, wenn sie in einem proportionalen Verhältnis zum eigenen Schutz steht. Dieser theoretische Stand wird aber durch den «Krieg gegen den Terrorismus», den asymmetrischen Krieg und die Technisierung des Tötens zunehmend ausgehöhlt, so im Gespräch mit Anton Leist, em. Professor für praktische Philosophie und Ethik. Es scheint, als sei der Tyrannenmord als antikes Mittel gegen Despoten auch in der Ära des Völkerrechts akzeptabel. Der moderne Begriff «Tyrann» ist erweitert worden und steht auch für Personen, die nichtstaatlichen Organisationen und nicht lokalisierbaren Gruppen vorstehen.

Diese moralische Unschärfe in Bezug auf den Umgang mit dem Terrorismus ist ein Problem – das auch der zunehmenden Technisierung des Kriegs geschuldet ist. Dazu zählt das gezielte Töten mittels Drohnen. Das Aufspüren und Eliminieren von Taliban-Chefs, Al-Kaida-Mitgliedern oder islamistischen Milizionären spielt für Streitkräfte und Sicherheitsdienste eine immer wichtigere Rolle. Eine Kriegspraxis, die uns aufgrund ihrer Unkontrollierbarkeit auf Schwierigkeiten hinweist. Es lässt sich nicht mehr bestimmen, wer verantwortlich ist. Der Verlust des Lebens von unbeteiligten Zivilisten wird bei DrohnenEinsätzen hingenommen und der Welt gegenüber nicht einmal mehr dokumentiert. Es handelt sich häufig um Drohnen der Geheimdienste und diese entziehen sich der öffentlichen Kontrolle. Aus dem «Tyrannenmord» ist ein personenzentriertes Töten geworden, mit dem man sich den Methoden des Terrorismus annähert, weil der Rechtfertigungsweg zwischen der konkreten, situationellen Bedrohung und Selbstverteidigung zu lang und undurchsichtig wird, so Anton Leist.

«Tyrannenmord» sollte ein Schutz sein, damit eine Gemeinschaft, die Gewalt erfährt und keine Hilfe zu erwarten hat, zum äussersten Mittel eines Attentates greifen kann. Es sind immer Notsituationen, doch ist nicht auszuschliessen, dass nach einem Tyrannenmord noch viel Schlimmeres entstehen kann – ahnt man doch, zu welchen Mitteln ein Tyrann und seine Gehilfen greifen können und welche zerstörerischen Mittel sie kontinuierlich einsetzen. Der «Tyrannenmord» schlägt immer wieder eine neue Seite der Geschichte auf und es zeigt darin sich unser Leben in seiner ganzen Komplexität.

Niklas Raggenbass