Das Ineinander von Bibel und Tradition beim Eheverständnis

Bischof Harald Rein über sein Bibelverständnis

Der Hirtenbrief zur Fastenzeit 2021 trägt den Titel „Ehe für Alle. Vorwärts machen. Aber mit Rücksicht auf Bibel, Tradition und Andersdenkende“. Er impliziert, dass die Bibel, die Tradition und die Konsens-findung für mich als Christ, als Christkatholik und als Bischof wichtig sind. Gleichzeitig hat dies Rückfragen ausgelöst. Sie möchten wissen wie ich die Bibel auslege? Und welche Kriterien dabei eine Rolle spielen? Wie jede/r von Ihnen kann ich gar nicht die Bibel lesen, ohne sie bewusst oder unbewusst auszulegen. Wie jede/r von Ihnen kann ich gar nicht über die Bibel nachdenken, ohne von Annahmen auszugehen, wie z.B. meinem christkatholischen Kirchenverständnis. Die folgenden Hinweise möchten dies nochmals verdeutlichen.

Als Pfarrer habe ich immer versucht, die Bibel altersgerecht und zeitbezogen zu vermitteln. Im sechsten Schuljahr war zum Beispiel eine Einstiegsfrage an die Schülerinnen und Schüler: Wie stellt ihr Euch die Entstehung der Bibel vor? Hat Gott im Himmel gesessen, die Bibel selbst geschrieben und dann hinuntergeworfen? Dann haben alle gelacht, diskutiert und gemeinsam zusammengetragen: Menschen haben aufgeschrieben, was sie mit Gott und Jesus erlebt haben. Menschen haben aufgeschrieben, was Ihnen Gott in Erscheinungen und Jesus gesagt haben. Zugleich wurde spürbar, dass die Bibel auf viele neue Fragen und Lebenssituationen keine Standardantwort parat hat und der Auslegung durch die Kirche bedarf. Daraus geht dann die Tradition hervor bzw. das «Ineinander von Bibel und Tradition».

Bedeutung der Bibel

Wichtig ist, einen biblischen Text in die heutige Zeit so zu übertragen, dass er verstanden und freiwillig gelebt werden kann. Dabei geht es aber nicht nur um den persönlichen Glauben, sondern auch um den Glauben der Kirche im Sinne verbindlicher christlicher Gemeinschaft, die nicht wir geschaffen haben, weil ihr letzter Grund Gottes Wirken in Jesus Christus ist (Vgl. die Präambel unserer Verfassung). Wer diese Aspekte bejaht, kommt nicht darum herum, sich generell und insbesondere auf unserer Nationalsynode mit biblischen Texten und unserer Tradition auseinanderzusetzen. Beschlüsse der Nationalsynode sind Referenztexte unseres Welt- und Werteverständnisses, zu dem wir uns als Mitglieder der Kirche bezüglich unserer Lebensgestaltung verpflichten und die Teil der kirchlichen Verkündigung sind. Ob wir dabei in sogenannten Glaubensfragen richtig entscheiden oder entschieden haben, zeigt sich vor allem darin, ob der Entscheid von den anderen Kirchen als nicht trennend akzeptiert wird oder im Extremfall zu einer Auflösung der Kirchengemeinschaft führt.

Beim Auslegen der Bibel können viele Methoden hilfreich sein. Ich beschränke mich hier auf die wörtliche Auslegung, die historische Auslegung und die historisch-kritische Auslegung. Für alle Methoden gilt das altkirchliche und reformatorische Prinzip: Man kann nicht das Gegenteil aus dem folgern, was gemeint ist. Alle Aussagen der Bibel zu einem Thema sind zu berücksichtigen. Bei unterschiedlichen Interpretationsmöglichkeiten haben die Aussagen im Neuen Testament Vorrang. Es ist nicht erlaubt, dem Wort Gottes etwas hinzuzufügen oder etwas wegzunehmen. Die Tatsache, dass ein Text Aufnahme in die Heilige Schrift gefunden hat, bedeutet, dass er für den christlichen Glauben und für das Sein als Mensch relevant ist.
Eine gleichgeschlechtliche Ehe oder eine Ehe für Alle im heutigen Sinne kannte und kennt die Bibel nicht. Die in der Familie eingebettete heterosexuelle Ehe ist für mich nach der wörtlichen, historischen und historisch-kritischen Methode aufgrund von Genesis 2,18 und 22-24 eine hervorgehobene Sozialform im Schöpfungsplan Gottes, um sich gegenseitig und den Kindern Stabilität zu geben und so den Glauben gemeinsam zu leben und weiterzugeben. Damit sind aber Ehen ohne Kinder oder andere Sozialformen in keiner Weise zweitrangig. Das hat die kirchliche Tradition immer wieder betont und ist fester Bestandteil der Auslegungsgeschichte des Schöpfungsberichtes.

Zu argumentieren, gemeint seien im Schöpfungsbericht nicht Mann und Frau, sondern nur zwei menschliche Wesen wird dem biblischen Text nicht gerecht. Das kann dort meines Erachtens weder gesagt noch gemeint sein, insbesondere auch im Hinblick auf die von Jesus erfolgten Präzisierungen im Neuen Testament in Markus 10,6-9 und Matthäus 19,4-8. Im Schöpfungsbericht geht um das soziale Modell der heterosexuellen Ehe im Kontext der Schöpfung im Heilsplan Gottes. Und im Schöpfungsbericht steht auch nicht, dass Gott den Menschen als Mann ODER Frau schuf, sondern er schuf ihn als Mann UND Frau, also männlich UND weiblich im Sinne von 2 Polen. In diesem Sinne gibt es keine Ausschliesslichkeit hinsichtlich Geschlechtszugehörigkeit und sexueller Veranlagung. Alle Menschen sind gleichwertige Geschöpfe Gottes. Aber die Bibel nennt nur die Verbindung bzw. Sozialform zwischen Mann und Frau eine Ehe.

Bedeutung der Tradition bei den Altkatholiken

Für Christinnen und Christen der reformatorischen Tradition ist im Prinzip alles im Leben erlaubt, was nicht ausdrücklich gegen die Bibel bzw. ihre Grundprinzipien / Grundaussagen gerichtet ist. Für Christen katholischer Tradition wird es schwieriger, da die Tradition und ihre Überlieferungsgeschichte im Heiligen Geist einen zusätzlichen Wert darstellen. Sie sind überzeugt, dass der Heilige Geist der Kirche beim Verständnis und bei der Interpretation der Bibel beisteht. Vor allem auch bei Fragestellungen, die die Bibel so noch nicht kannte. Für uns Christkatholiken/innen ist daher zugleich wichtig, was immer und überall von der Kirche bis heute geglaubt und gelehrt worden ist. Weiterführungen der Bibel oder sogar Veränderungen bedürfen nicht nur begründeter Bibelauslegungen aufgrund der historisch-kritischen Methode und/oder neuerer Erkenntnisse der Naturwissenschaften, sondern in etwaigen «Glaubensfragen» vor allem der Konsensfindung in der eigenen Kirche und des Einbezugs und der Zustimmung der anderen Ortskirchen. Damit sind bei uns nicht nur die altkatholischen Kirchen der Utrechter Union gemeint, sondern alle Kirchen mit denen wir in Kirchengemeinschaft stehen (Anglikanische Kirchen, Philippinisch Unabhängige Kirche und Kirche von Schweden) oder eine solche anstreben (Orthodoxe Kirchen, Römisch-katholische Kirche und Mar Thoma Kirche). Das wird als Wirken des Heiligen Geistes erlebt und als Ineinander von Bibel und Tradition. Im Johannesevangelium 14,26 heisst es dazu: «Der Sachwalter, der Heilige Geist, den der Vater senden wird in meinem Namen, der wird euch alles lehren und euch an alles erinnern, was ich euch gesagt habe.»

Das Ineinander von Bibel und Tradition

Eine gleichgeschlechtliche Ehe oder Ehe für Alle im heutigen Sinne kannte und kennt die Bibel nicht. Auch wenn natürlich das Leben vielfältiger war und ist, hat der biblische Ehebegriff nur Mann und Frau im Auge. Und das hat auch die Ausserordentliche Session unserer Nationalsynode in Zürich im Grunde genommen bestätigt. Die meisten Referate und Gruppenarbeiten reden bei gleichgeschlechtlicher Ehe oder Ehe für Alle von einem neuen Phänomen bzw. von einer Weiterführung des biblischen Grundanliegens.

Die kirchliche Segnung einer gleichgeschlechtlichen Zivilehe lässt sich meines Erachtens am besten aufgrund der von Natur aus gegebenen sexuellen Orientierung mit der Gottebenbildlichkeit eines jeden beziehungsorientierten Menschen begründen, die nach Gleichbehandlung aufgrund des allgemeinen Liebesgebotes verlangt. Es geht im Blick auf den biblischen Ehebegriff zwar um etwas Gleichwertiges und Ähnliches, aber Neues und Anderes. Das hat mit Diskriminierung nichts zu tun. Vielmehr mit folgendem Phänomen: Im heutigen Christentum gibt es im Hinblick auf die gegenwärtige schwierige Situation der Kirchen in Europa zwei Flügel. Der eine fragt: Wie können wir uns am besten an die gesellschaftlichen Veränderungen anpassen? Welche Teile der Tradition gilt es als Ballast abzuwerfen oder zu ändern? Der andere Flügel fragt: Was muss sich in der Gesellschaft ändern, damit das Christentum sich mit seinen ursprünglichen Massstäben und den biblischen Idealen in unserer Zeit weiter entfaltet? Die grösste Energie wird darauf verwendet, die Position des gegnerischen Lagers zu bekämpfen, anstatt nach gemeinsamen Lösungen zu suchen. Gerade unsere bischöflich-synodale Kirchenstruktur mit ihrer Konsenskultur ist als Modell und Vorbild gefordert. Arbeiten wir daran und beten wir dafür, dass es weiter gelingt. Gerade unser altkirchliches Traditionsverständnis ermöglicht uns weiterführende Wege im Ehe- und Familienverständnis.

Zusammenfassung

Als Bischof habe ich in der Frage der Integration der Ehe für Alle zwei Aufgaben zu bedenken. In pastoraler Hinsicht finde ich die Möglichkeit der Zivilehe für in gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaft lebende Menschen wichtig und gut; ebenso die Möglichkeit diese kirchlich zu segnen. Zugleich gibt es eine kirchliche Ehe für Alle im Hinblick auf das Ineinander von Bibel und kirchlicher Tradition nicht. Auch muss eine Entscheidung in dieser «Glaubensfrage» mit unserem eigenen Kirchenverständnis (altkirchliches Konsensprinzip) und auch mit unserem ökumenischen Ansatz (in Gemeinschaft mit unseren Schwesterkirchen) kompatibel sein. Hier muss für den Bischof die Aufgabe als Hüter der Einheit im Glauben im Vordergrund stehen. Wenn es in meinem Grundanliegen «Ehe für Alle» mit Rücksicht auf Bibel, Tradition und Andersdenkende) logische Widersprüche gibt, haben sie mit dieser Ausgangslage zu tun. Daher halte ich zwei verschiedene Segnungsriten oder eine Vielfalt von Segnungsriten, orientiert nach Lebenssituationen und nicht nach Geschlecht, für eine gute Lösung. Nach gegenwärtigem Diskussionsstand heisst die Frage, die ich gemeinsam mit Synodalrat und Synodebüro jedem einzelnen Delegierten der Nationalsynode in der 1. Lesung Ehe für Alle vorlegen möchte: «Glauben Sie, dass der Segen, den die Kirche einer auf Dauer angelegten Lebensgemeinschaft zwischen zwei Erwachsenen des gleichen Geschlechts zuspricht, in gleicher Weise sakramental ist wie das Ehesakrament?»

+ Harald Rein


Rückfragen an den Bischof

Für alle Mitglieder der Christkatholischen Kirche der Schweiz besteht die Möglichkeit zu Rückfragen an Bischof Harald und zur Diskussion mit ihm per VIDEO ZOOM („Zoom“ ist eine Software von Zoom Video Communications Inc.) von Mitte bis Ende Juni an Abenden und am Samstagmorgen. Wenn Sie dabei sein möchten, senden Sie bitte als Anmeldung ein kurzes Email bis 15. Juni 2021 an: sekretariat.bischof(at)christkatholisch.ch – Sie erhalten dann eine Einladung mit einem Link und der Möglichkeit, zwischen zwei Daten zu wählen.